Liebe Mitleser,
zu allererst möchte ich Euch heute von dem behinderten Sohn der Familie berichten. Es fällt mir außerordentlich schwer, Euch von dieser beeindruckenden Persönlichkeit zu berichten, denn ich möchte diesen Menschen nicht auf die Wahrnehmung "behindert" reduzieren, obwohl der Bericht viel damit zu tun hat. M. wird in diesem Jahr 18 Jahre alt. Er kam als 13-Jähriger schwer krank auf dem Rücken seines Vaters hier an. Als erste medizinische Maßnahme wurde er sofort in eine Universitätsklinik gebracht. Hier fand auch ein Gespräch mit einem Dolmetscher statt, wo ihm und seinem Vater die Notwendigkeit der bevorstehenden Operation erläutert wurde. Dann musste der Vater wieder zurück in das Aufnahmelager und hatte auch nicht die Mittel, seinen Sohn zu besuchen. Außer dieser einen Aufklärung in der Muttersprache Dari konnte er in den darauffolgenden Wochen mit niemanden sprechen. Er wusste nicht, was warum mit ihm gemacht wurde und wie lange es dauern würde. Als ich M.ungefähr zwei Jahre später kennenlernte, sprach er schon gut Deutsch und arbeitete in einer Schule für behinderte, junge Mensch auf den Hauptschulabschluss hin, den er natürlich auch als Bester erreichte. Zu dieser Zeit bangte er um seine Mutter und seine Geschwister, die Vater und Sohn ohne Schutz zurücklassen mussten. Der übliche Weg wäre gewesen, weiterhin auf eine Schule für Behinderte zu gehen und in zwei Jahren den Realschulabschluss zu machen. M. fragte jeden nach seiner Meinung. Auch ich riet angesichts seiner körperlichen Schwäche zu dem "behindertengerechten, zweijährigen Weg" in einem entsprechenden Internat. Doch M. wollte sich - entgegen dem Rat aller - selbst erproben und erfahren, was an der Inklusion dran ist. Nach nur einem halben Jahr hat er nun schon wieder ein Vorzeigezeugnis mit den höchsten Noten in Mathe und Naturwissenschaften. Englisch und Deutsch machen ihm noch in Bezug auf das Schulniveau zu schaffen. Die Klassenlehrerin rät zum Besuch eines beruflichen Gymnasiums. Doch M. will es nun wieder wissen. Doch das erste Oberstufengymnasium hat gar keinen Aufzug. Das Zweite hat Hebebühnen, die verunsichern, weil auch Niemand weiß, wie sie benutzt werden. Bisher hat sie noch niemand gebraucht. Um bestimmte Räume aufzusuchen, muss er um das Schulgebäude außen herumfahren. Wenn er dann ankommt, hat der Unterricht vermutlich schon angefangen. Die Behindertentoilette wird als Raum für Putz-Utensilien genutzt, der Schlüssel war am Tag der offenen Tür nicht aufzufinden. Aber es gibt ja noch eine dritte Option. Hier liegt den Schwerpunkt auf den so genannten "weichen" Fächern, Deutsch, Englisch, Politikwissenschaft. Das schaffst Du nicht, sagt die Klassenlehrerin. Und was sagen wir - die Betreuer? Wir unterstützen ihn jetzt. Wenn es nicht sofort klappt, könnte er die 11. Klasse noch einmal wiederholen oder immer noch auf das berufliche Gymnasium gehen. Erwähnenswert erscheint mir noch, dass die derzeitigen Mitschüler in der Realschule trotz Rabaukenalter sehr hilfsbereit sind. Sie halten ihm die Türen auf und gehen auch schon einmal mit zur Toilette.
Unser Optimismus in Bezug auf die Schullaufbahn kommt von M. selbst. Wir sind beeindruckt, wie er alles durchdenkt und dann auch durchzieht.
Doch wie geht es seiner älteren Schwester, die mit Sondergenehmigung gleich in die 11. Klasse kam? Da sie sehr ehrgeizig ist, konnte sie es zu Anfang nur schwer verkraften bei den Noten hinten an zustehen. Inzwischen schreibt sie in den mathematisch naturwissenschaftlichen Fächern gute bis sehr gute Noten. Sie hat zusammen mit anderen in der Oberstufe Spanisch als dritte Fremdsprache anfangen müssen und ist da auf dem gleichen Niveau wie die anderen. Deutsch, Englisch, Geschichte sind noch sehr schwer aber, das ganze Lehrerkollegium ist sich einig, dass sie das Abitur schafft, wenn sie die 11. Klasse noch einmal wiederholt.
Ihre jüngere Schwester ist jetzt in der 9. Klasse. Neulich sagte sie mir: Meine Lehrerin nimmt mich jetzt härter ran. Sie stellt mir Fragen und dann muss ich im Unterricht was sagen. ICH FINDE DAS GUT! ICH MUSS MICH DARAN GEWÖHNEN NORMAL BEHANDELT zu werden. Im Gespräch sagten wir ihr neulich, Du musst mal alles aufschreiben, was Du in Deinem Leben erlebt hast, damit Du es nicht vergisst und später Deinen Kindern erzählen kannst. Antwort: DAS VERGESSE ICH NIE!
Und der Kleinste? Er hat noch kein richtiges Zeugnis, aber ca. 20 Eigenschaften werden bewertet, wie - beteiligt sich am Unterricht. kann fließend lesen. kann im Zahlenraum bis...rechnen, hat seiner Unterlagen in Ordnung usw. Ihr erratet es schon: Überall die beste Bewertung.
Und jetzt haben wir einen "Heimatminister", der vermutlich stolz darauf sein wird, wenn er die Abschiebestatistik hochschrauben kann. Joringel ist unruhig, wir hoffen, dass die fast perfekte Integration der Kinder zählt.
Euer Joringel