Da ich doch oft eine herzliche Anteilnahme an diesen Berichten verspüre, möchte ich Euch ein wenig weiterberichten. Inzwischen lerne ich die Familie immer mehr und mehr kennen und weiß jetzt wie belastet und risikoreich der Weg nach Deutschland war. Denn zuerst gingen ja der Vater mit seinem kranken Sohn allein, der andere Teil der Familie mit 3 Kindern und der Mutter blieben zurück. Für einen gemeinsamen Weg reichte das Geld nicht. Außerdem hoffte der Vater, dass sein Sohn in Deutschland geheilt würde und glaubte, er könne wieder zurückkehren, was niemals möglich gewesen wäre, denn der Iran nimmt keine Afghanen zurück. Der Vater leidet sehr darunter, dass sein Sohn nicht geheilt werden kann. Wir hoffen alle mit ihm auf die Weiterentwicklung der Medizin. Um Geld zu sparen, sind Vater und Sohn viel gelaufen. Normalerweise gehen die Flüchtlinge in Gruppen, Vater und Sohn mussten den Weg allein bewältigen, da sie sehr langsam waren. M. nahm zu Anfang in dieser Phase einen Rollator zur Hilfe, der dann aber kaputt ging. Der Vater hat seinen Sohn dann auf dem Rücken getragen. Die Mutter brach unter ihren Ängsten und Sorgen förmlich zusammen und die älteste Tochter übernahm die Mutterrolle, um die Familie zu stabilisieren. Vormittags gingen die Töchter zur Schule, nachmittags in eine Fabrik zum Arbeiten, kamen oft abends spät nach Hause und lernten noch bis Mitternacht.
Aufgrund ihres Alters kam die älteste Tochter Z. in Deutschland dann nicht mehr in eine Regelschule, sondern blieb in einem Integrationskurs hängen und musste sich dem langsamen Lerntempo auch desinteressierter Schüler anpassen. Sie fiel zwar durch ihren Fleiß und ihre Lernfähigkeit auf, doch ihre Weichen sollten in Richtung Altenpflegehelferin gestellt werden, während ihre kleinere Schwester in einem Integrationskurs war, der dem Gymnasium angegliedert war und hier ermutigt wurde, nach dem Erwerb der ersten Sprachkenntnisse in die 8. Klasse zu gehen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt erweiterte sich das Unterstützungsteam von Jorinde und Joringel um eine weitere, sehr resolute Person, Frau N., deren Kinder genau auf dieses Gymnasium gingen.
Gemeinsam wollten wir nicht akzeptieren, dass genau dieses Mädchen, das schon soviel Verantwortung übernommen hatte und so lernbegierig war, in Bezug auf die Schullaufbahn einfach nur Pech hatte.So setzten wir uns intensiv für zusätzlicher Sprachkurse und den Übergang auf das Gymnasium ein. Es gab erstaunlich viel Unterstützung, aber auch Widerstand von Seiten der zuständigen Lehrerin, vermutlich um ihre Vorzeigeschülerin zu behalten.
Aktuell sind nun 3 junge Menschen dieser Familie auf dem Gymnasium. Z. und ihr schwerstbehinderter Bruder M. gehen in eine Klasse. Beide sind sehr begabt in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Mathematik. Deutsch, Englisch, Powi und Geschichte machen große Probleme. Der junge Mann ist mit Deutsch schon weiter und hat auch eine gute Aussprache. Während Z. mit der Aussprache noch Schwierigkeiten hat.Sie muss sich aber melden, weil sie sonst ihre Deutschnote nicht ausgleichen kann. Leider reagiert die Lehrerin mit Sätzen wie diese: "Ich verstehe nicht, was Du sagst", während andere Schüler ihr sagen, dass sie sie verstanden haben.
In den Herbstferien haben die Gymnasiasten etwas länger geschlafen, aber sie lernen jeden Tag bis ungefähr 24.00 Uhr. Joringel hat fast täglich mit ihnen gearbeitet und sein Wissen von der Entstehung und Geschichte Roms bis über die französische Revolution bis zu den Menschenrechten und den Dramen Schillers zwecks Nachhilfe im Sturzflug aktualisiert. Sie verstehen vieles falsch, weil sie die Bedeutung der Worte nicht kennen. Joringel nutzt entsprechende Fragen zu Exkursen in europäisches Denken.
Während Joringel den Bildungspart übernahm, kämpfte Frau N. um den Behindertentransport von M. Dieses Problem ist immer noch nicht gelöst, weil ein solcher Transport für Flüchtlinge in Richtung Gymnasium nicht vorgesehen ist. Es gibt keine Statuten dazu, alle sind willig, aber keiner traut sich, den Transport zu genehmigen. Wenn M. erkältet ist, muss er ins Krankenhaus, weil seine Lunge extrem gefährdet ist. Es gibt auch ausführliche medizinische Atteste dazu. Die Busse nehmen ihn aber mit seinem Elektromobil oft nicht mit, weil sie überfüllt sind. Von der Haltestelle aus muss er noch eine steile Straße hochfahren bis er am Ziel ist. Das dauert. Morgens sind seine Hände dann so kalt, dass er eine halbe Stunde lang nicht schreiben kann. Die Gymnasien unserer Stadt sind schlecht bis gar nicht auf behinderte Menschen eingestellt, der Antrag auf eine bauliche Maßnahme zur Verbesserung des Weges innerhalb der Schule wurde abgelehnt. Wohlgemerkt, die meisten angesprochenen Verantwortlichen sind angetan von diesen jungen Menschen und versuchen, ihren Bildungswunsch zu unterstützen und Hindernisse zu beseitigen. Das ist sehr, sehr ermutigend und viel besser als wir je gedacht haben. Aber es geht eben nichts von selbst. Jetzt hoffen wir, dass wir mit dem Behindertentransport bald am Ziel sind, weil Frau N. jetzt nach vielem Hin und Her einen Beamten gefunden hat, der seine Zuständigkeit anerkannt hat. Er will aber die oberste Amtsleitung involvieren.
Noch nie habe ich so etwas wie jammern vernommen. Die Familie ist durch die Hölle gegangen und alles andere ist nicht einfach, aber wenigstens keine Hölle.