Schüler ohne Herbstferien - Blick auf eine afghanische Flüchtlingsfamilie

#1 von Joringel , 19.10.2018 11:08

Da ich doch oft eine herzliche Anteilnahme an diesen Berichten verspüre, möchte ich Euch ein wenig weiterberichten. Inzwischen lerne ich die Familie immer mehr und mehr kennen und weiß jetzt wie belastet und risikoreich der Weg nach Deutschland war. Denn zuerst gingen ja der Vater mit seinem kranken Sohn allein, der andere Teil der Familie mit 3 Kindern und der Mutter blieben zurück. Für einen gemeinsamen Weg reichte das Geld nicht. Außerdem hoffte der Vater, dass sein Sohn in Deutschland geheilt würde und glaubte, er könne wieder zurückkehren, was niemals möglich gewesen wäre, denn der Iran nimmt keine Afghanen zurück. Der Vater leidet sehr darunter, dass sein Sohn nicht geheilt werden kann. Wir hoffen alle mit ihm auf die Weiterentwicklung der Medizin. Um Geld zu sparen, sind Vater und Sohn viel gelaufen. Normalerweise gehen die Flüchtlinge in Gruppen, Vater und Sohn mussten den Weg allein bewältigen, da sie sehr langsam waren. M. nahm zu Anfang in dieser Phase einen Rollator zur Hilfe, der dann aber kaputt ging. Der Vater hat seinen Sohn dann auf dem Rücken getragen. Die Mutter brach unter ihren Ängsten und Sorgen förmlich zusammen und die älteste Tochter übernahm die Mutterrolle, um die Familie zu stabilisieren. Vormittags gingen die Töchter zur Schule, nachmittags in eine Fabrik zum Arbeiten, kamen oft abends spät nach Hause und lernten noch bis Mitternacht.

Aufgrund ihres Alters kam die älteste Tochter Z. in Deutschland dann nicht mehr in eine Regelschule, sondern blieb in einem Integrationskurs hängen und musste sich dem langsamen Lerntempo auch desinteressierter Schüler anpassen. Sie fiel zwar durch ihren Fleiß und ihre Lernfähigkeit auf, doch ihre Weichen sollten in Richtung Altenpflegehelferin gestellt werden, während ihre kleinere Schwester in einem Integrationskurs war, der dem Gymnasium angegliedert war und hier ermutigt wurde, nach dem Erwerb der ersten Sprachkenntnisse in die 8. Klasse zu gehen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt erweiterte sich das Unterstützungsteam von Jorinde und Joringel um eine weitere, sehr resolute Person, Frau N., deren Kinder genau auf dieses Gymnasium gingen.
Gemeinsam wollten wir nicht akzeptieren, dass genau dieses Mädchen, das schon soviel Verantwortung übernommen hatte und so lernbegierig war, in Bezug auf die Schullaufbahn einfach nur Pech hatte.So setzten wir uns intensiv für zusätzlicher Sprachkurse und den Übergang auf das Gymnasium ein. Es gab erstaunlich viel Unterstützung, aber auch Widerstand von Seiten der zuständigen Lehrerin, vermutlich um ihre Vorzeigeschülerin zu behalten.

Aktuell sind nun 3 junge Menschen dieser Familie auf dem Gymnasium. Z. und ihr schwerstbehinderter Bruder M. gehen in eine Klasse. Beide sind sehr begabt in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Mathematik. Deutsch, Englisch, Powi und Geschichte machen große Probleme. Der junge Mann ist mit Deutsch schon weiter und hat auch eine gute Aussprache. Während Z. mit der Aussprache noch Schwierigkeiten hat.Sie muss sich aber melden, weil sie sonst ihre Deutschnote nicht ausgleichen kann. Leider reagiert die Lehrerin mit Sätzen wie diese: "Ich verstehe nicht, was Du sagst", während andere Schüler ihr sagen, dass sie sie verstanden haben.

In den Herbstferien haben die Gymnasiasten etwas länger geschlafen, aber sie lernen jeden Tag bis ungefähr 24.00 Uhr. Joringel hat fast täglich mit ihnen gearbeitet und sein Wissen von der Entstehung und Geschichte Roms bis über die französische Revolution bis zu den Menschenrechten und den Dramen Schillers zwecks Nachhilfe im Sturzflug aktualisiert. Sie verstehen vieles falsch, weil sie die Bedeutung der Worte nicht kennen. Joringel nutzt entsprechende Fragen zu Exkursen in europäisches Denken.

Während Joringel den Bildungspart übernahm, kämpfte Frau N. um den Behindertentransport von M. Dieses Problem ist immer noch nicht gelöst, weil ein solcher Transport für Flüchtlinge in Richtung Gymnasium nicht vorgesehen ist. Es gibt keine Statuten dazu, alle sind willig, aber keiner traut sich, den Transport zu genehmigen. Wenn M. erkältet ist, muss er ins Krankenhaus, weil seine Lunge extrem gefährdet ist. Es gibt auch ausführliche medizinische Atteste dazu. Die Busse nehmen ihn aber mit seinem Elektromobil oft nicht mit, weil sie überfüllt sind. Von der Haltestelle aus muss er noch eine steile Straße hochfahren bis er am Ziel ist. Das dauert. Morgens sind seine Hände dann so kalt, dass er eine halbe Stunde lang nicht schreiben kann. Die Gymnasien unserer Stadt sind schlecht bis gar nicht auf behinderte Menschen eingestellt, der Antrag auf eine bauliche Maßnahme zur Verbesserung des Weges innerhalb der Schule wurde abgelehnt. Wohlgemerkt, die meisten angesprochenen Verantwortlichen sind angetan von diesen jungen Menschen und versuchen, ihren Bildungswunsch zu unterstützen und Hindernisse zu beseitigen. Das ist sehr, sehr ermutigend und viel besser als wir je gedacht haben. Aber es geht eben nichts von selbst. Jetzt hoffen wir, dass wir mit dem Behindertentransport bald am Ziel sind, weil Frau N. jetzt nach vielem Hin und Her einen Beamten gefunden hat, der seine Zuständigkeit anerkannt hat. Er will aber die oberste Amtsleitung involvieren.

Noch nie habe ich so etwas wie jammern vernommen. Die Familie ist durch die Hölle gegangen und alles andere ist nicht einfach, aber wenigstens keine Hölle.


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zuletzt bearbeitet 19.10.2018 | Top

RE: Schüler ohne Herbstferien - Blick auf eine afghanische Flüchtlingsfamilie

#2 von turmfalke , 20.10.2018 12:29

Lieber Joringel!

Ja, es ist gut, dass Du uns regelmäßig berichtest. Wir hören in den Medien immer über die Gesammtlage in der Welt und über die Abgründe von Flüchtlingspolitik in Deutschland. Aber das bleibt abstrakt. Erst wenn einem deutlich bewußt gemacht wird, dass es sich um lebende Menschen mit bewegenden Einzelschicksalen handelt, versteht man die Situation besser. Danke dafür!

Dabei wird aber auch deutlich, dass wir noch nicht im Himmel sind. Wenn ich mit Flüchtlingen spreche, dann habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sich das so vorgestellt hatten: Deutschland ist fast schon so etwas wie das Paradies. Vielleicht braucht man auch so eine eschatologische Vision, um den Mut zu bewahren und auf der Flucht durchzuhalten.

Aber dann stellt sich heraus, das die Wirklichkeit doch sehr viel nüchterner ist:

Die schwere Krankheit ist nicht wirklich heilbar, man kann sie aber lindern und dem jungen Menschen ein sinnvolles Leben mit der Krankheit ermöglichen.

Es gibt ein Menschenrecht auf Bildung. Es gibt in unserem Staat ein Recht auf Inclusion und Teilhabe. Aber dann keinen Transport für ein körperbehindertes Kind zur Schule. Da braucht es Menschen, die trotz allem daran glauben und dann dafür kämpfen, dass Recht auch zu einer erkennbaren Lebenswirklichkeit wird.

Unterwegs begegnen uns viele liebe Menschen, die verstehen und helfen. Das ist schön.

Aber die Möglichkeiten sind immer begrenzt.

Wenn du beschreibst, wie viel Deine Schützlinge arbeiten, um in unserem fremden Land voranzukommen, dann wird mir allerdings ganz schummerig. Ist es wirklich richtig, dass sie sich keine Pause gönnen, offensichtlich nicht genug schlafen, und als Kinder und Jugendliche nicht einmal den Freiraum finden, um in den Ferien ein wenig unbeschwert zu spielen?

Vieleicht solltest du ihnen zusammen mit Joringel das einmal sagen und sie vielleicht auch mal mitnehmen auf einen Spaziergang an der Luft und in der Sonne. Das gehört zu einem gelungenen Leben auch dazu.

Ich wünsche euch Allen Alles Gute dazu!

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RE: Schüler ohne Herbstferien - Blick auf eine afghanische Flüchtlingsfamilie

#3 von Robin , 20.10.2018 21:08

Ja, Joringel, Deine Berichte sind wichtig und richtig gut. Kannst Du uns noch einmal genauer sagen, woran der junge Mann, der Sohn, erkrankt ist? Vielleicht hast Du schon früher davon gesprochen, aber ich weiß es nicht mehr. Es scheint ja so, dass auch die gegenwärtig beste Medizin hier nicht helfen kann. Aber ist es jedenfalls keine fortschreitende Krankheit? Kann der junge Mann damit zu leben lernen?
Dass Du kräftig mitlernst und Deinen eigenen Bildungshorizont erweiterst oder auffrischest, ist ja gut und wird auch Dir sicher etwas Freude machen.
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RE: Schüler ohne Herbstferien - Blick auf eine afghanische Flüchtlingsfamilie

#4 von Joringel , 21.10.2018 21:51

Liebe Freunde,
gern komme ich auf die Fragen zurück:

Ja, das Unterstützerteam beobachtet die jungen Menschen auch mit Sorge, was den langen Lernarbeitstag angeht. Am meisten lernt wohl die älteste Tochter, die ihre Chance auf ein gutes Abitur unbedingt wahrnehmen möchte. Sie hat noch die größten Probleme mit der deutschen Sprache. Wir versuchen immer sie zu beruhigen, verweisen darauf, was sie schon allein im letzten Jahr gelernt hat und wie dieser Prozess sukzessiv weitergehen wird. Aber aktuell reicht es nicht, um sinnvolle Beiträge in den geisteswissenschaftlichen Fächern zu liefern. Sie hat sich die kommende Lektüre ankündigen lassen: Kabale und Liebe von Schiller. Das verstehen auch die deutschen Schüler kaum. Joringel gibt täglich Schützenhilfe und bereitet die Lektüre der einzelnen Szenen schriftlich vor. Z. ist sehr selbständig und liebt die Natur über alles. Ein schöner Park ist fußläufig erreichbar, da gehen sie auch mal für ein, zwei Stunden hin und genießen es sehr.
Ja, ca. alle drei Monate organisieren wir einen Familienausflug. Dazu brauchen wir immer zwei Autos. In den Herbstferien haben wir einen Zoo besucht, der sehr schön in eine Landschaft eingebettet ist. Zuerst kam von den "großen" Kindern ein "... oh, aber wir müssen doch lernen!" Dann wurde es in der Familie besprochen und so haben wir es gemacht. Der Ausflug dauerte 6 Stunden und alle waren glücklich.. Jetzt am nächsten Wochenende organisiert die andere Unterstützerfamilie einen Ausflug in ein Naturschutzgebiet.

Der junge Mann hat eine Erbkrankheit, sie heißt progressiver Muskelschwund. Es gibt wohl auch hier verschiedene Formen. Nach Allem was ich weiß, war diese Krankheit früher tödlich zwischen dem 18. und 20. Lebensjahr, jetzt soll die Lebenserwartung bei ca. 40 Jahren liegen. In den letzten Jahre gelang in den USA erstmals ein Durchbruch. Babys, die die Symptome hatten, bekamen eine bestimmte Behandlung, während die Babys einer Vergleichsgruppe früh starben. Daraufhin wurde dieses erste Experiment abgebrochen, weil es unethisch war. Ich denke, dass jetzt alle Babys, bei denen diese Krankheit entdeckt wird, diese Medikamente bekommen. M.'s Vater bat mich inständig, diese Medizin zu besorgen. Aber was ich da in der Apothekerzeitung (nicht Umschau!) gelesen hatte beschrieb, dass dieses Medikament im Krankenhaus in das Gehirn eingeleitet wird. Ich würde auch niemals mit irgendwelchen Medikamenten oder Tabletten in die Behandlung eingreifen wollen. Aber man kann wohl mit verschiedenen Mitteln den Verlauf jetzt verlangsamen und M. hofft auf Weiterentwicklung in der Forschung. Da er schon fast alles mündlich und schriftlich gut versteht, weiß er, was Inklusion bedeutet und hat für sich entschieden: Das ist mein Weg! Er hat einen Super-Krankengymnasten, der ihm immer Mut macht und sagt. "Du kannst alles erreichen!" Und M. hat eine stille, aber beharrliche Art, seinen Weg zu gehen und andere von sich zu überzeugen. Was er vermisst, sind deutsche Freunde. Er hat einen guten Freund, der auch Rollstuhlfahrer ist. Er wohnt ca. 20 km von hier und sie treffen sich manchmal in der Stadt.


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RE: Schüler ohne Herbstferien - Blick auf eine afghanische Flüchtlingsfamilie

#5 von urban62 , 06.11.2018 11:45

Ich finde auch, man sollte das Ganze ein wenig kritischer betrachten.

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RE: Schüler ohne Herbstferien - Blick auf eine afghanische Flüchtlingsfamilie

#6 von Joringel , 06.11.2018 12:23

Dann tue es doch mal. Kritik ist ja nicht verboten hier.
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