Weihnachten traf mit 14 Tagen Verspätung nach Briefdatum ein amtliches Schreiben ein, welches normalerweise nach dem Bescheid (bzw. der Entscheidung des BAMF) versendet wird. Die eigentliche Entscheidung, auf die sich das Schreiben bezieht, liegt aber nicht vor. Alle Klärungsversuche verliefen bisher im Sand. So steht es 50 : 50, die psychische Belastung ist groß. Wird man die Familie wieder trennen? Für Joringel ist das unvorstellbar und für die Familien noch mehr als unvorstellbar. Es wäre wie ein Sturz in den Abgrund. Alle bewahren tapfer Haltung.
Mutter H.. die Analphabetin, besucht jetzt einen Sonderkurs für Flüchtlinge, die nicht lesen und schreiben können. Obwohl sie sich noch nicht verständlich machen kann, fährt sie tapfer allein mit dem Bus und kommt mit gestärktem Selbstbewusstsein wieder. Wenn ich mit ihren Kindern lerne, sitzt sie auf dem Sofa und vertieft sich mit großer Ernsthaftigkeit in ihr Übungsheft.
Vater H. hat sehr viel mit der Familienorganisation zu tun. Hier einen Antrag stellen, dort ein amtliches Schreiben klären, den kranken Sohn M. zum Arzt und zur Krankengymnastik begleiten, Einkaufen für 6 Personen, darauf achten, dass das Geld auch reicht, wenn die Stromrechnung kommt..usw. Den Integrationskurs besuchen, lernen, für den 1 € Job in der Flüchtlingsunterkunft arbeiten.
Die 17-jährige Z. kämpft weiter um ihre schulische Eingliederung. Im Integrationskurs ist sie die Beste. Parallel dazu erarbeitet sie sich mit ihrem Bruder zusammen den Hauptschulabschluss, lernt mit ihm und durch ihn Englisch. Chemie, Physik, Mathematik, dazu brauchen sie Niemanden, das schaffen sie alleine. Im Mai hat sie eine deutsche Sprachprüfung. Joringel unterstützt sie bei der Vorbereitung. Zusätzlich finanziert das Sozialamt noch 1 Deutschstunde in der Woche.
Der kranke Sohn Mahdi bereitet sich jetzt auf den Hauptschulabschluss vor. Auch ihm hat das Sozialamt zusätzlichen Unterricht genehmigt, aber wir haben noch keinen Ort gefunden, wo die Nachhilfe barrierefrei ist. Jetzt im Winter friert M. leicht, er wiegt nur ca. 45 KG.und sieht sehr zerbrechlich aus. Manchmal ist er sehr blass und müde. Wenn es mich schon beunruhigt, wie mag es erst der Mutter gehen? Er beeindruckt alle mit seiner Tapferkeit und der Würde, mit der er sein schweres Schicksal trägt. Wenn M. lächelt dann...ja da findet, Joringel keine Worte. Aber sein Lächeln ist ansteckend für alle.
Die 14-jährige N. geht jetzt probeweise auf die dritte Klasse des Gymnasiums. Die Klassenlehrerin steht hinter ihr und unterstützt sie psychologisch, aber auch mit guten Tipps. Sie und andere junge Flüchtlinge bekommen einen Stützkurs in Deutsch und Hausaufgabenhilfe. Wenn Sie dann nach Hause kommt, bereitet sie sich auf den Stoff des nächsten Tages vor, damit sie dem Unterricht folgen kann. Die Jungens in ihrer Klasse lachen sie aus, wenn sie etwas falsch ausspricht, aber sie hat deutsche Freundinnen, die ihr helfen und ihr sagen: "Deine Fehler sind so süß". Das macht Mut. Im Unterricht lesen sie die Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel, Sprache und Ambiente sind altertümlich, die Lehren, die man daraus ziehen kann sind tiefsinnig. "Meine deutschen Freundinnen verstehen das auch nicht!" hat sie schon festgestellt. So ringen wir mit dem Text bis ein versonnenes "Aha, das habe ich jetzt verstanden" kommt. Wenn ich weg bin, lernt N. im Selbststudium Latein, denn sie ist aktuell in einer Lateinklasse gelandet, aber vom Unterricht befreit. Sie hofft, dass sie im Sommer in die vierte Klasse versetzt wird, aber es ist noch offen, ob sie dann Latein oder Französisch lernen muss.
Der jüngste Bruder H. geht gern in die Schule und in den Hort. Er ist jetzt 7 Jahre alt, aber sieht aus wie der kleine Däumeling. Er liebt seinen großen Bruder über alles und kuschelt gern mit ihm in seinem Pflegebett. Er war drei Jahre alt als Vater und Bruder sich zuerst auf den Weg machten. Drei Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen und trotzdem flog er sofort auf den großen Bruder als er ihn endlich wieder erblickte. H. besteht darauf, dass ich auch mit ihm lerne. An meiner Seite kämpft er um die richtige Aussprache, wiederholt meine Worte und blickt mich fragend an, bändigt seine Lippen, seine Zunge bis es richtig ist. In seiner Klasse hat er eine Verehrerin, sie malt ihm immer rosa Herzchen. Das tut gut, auch wenn das Mädchen nicht so interessant ist wie die anderen Jungens.