Liebe Leser,
Joringel hatte euch schon das eine oder andere Mal von seinen Erfahrungen mit einer Flüchtlingsfamilie berichtet. Nun denkt er, es ist vielleicht auch einmal gut, das Schicksal der Familie insgesamt vorzustellen. Nach allem was er weiß, hat sich Folgendes abgespielt:
Frau H. sollte in Afghanistan mit einem Taliban zwangsverheiratet werden. Sie wollte es nicht, wehrte sich und heiratete einen anderen Mann. Dieser Mann wurde von den Taliban ermordet. Daraufhin heiratete sie den Bruder des Ermordeten und floh mit ihm in den Iran. Sie sagt, ihr Vater starb vor Kummer, die Mutter bleib allein zurück.
In Teheran lebten sie in einem berüchtigtem Slum, zwar registriert bei der Polizeibehörde, aber nicht anerkannt. Staatenlos. Als erstes wurde ihnen eine Tochter geboren mit Namen Z., dann ein Sohn mit Namen M. Erst im laufe der Jahre bemerkten sie, dass dieser krank war. In der Schule konnte er nicht aufstehen wie andere Kinder. Seine Bewegungen waren mühselig und langsam. Irgendwann gab es eine Diagnose: Erbkrankheit - progressiver Muskelschwund.
In diesen Jahren wurde Vater D. mehrmals abgeschoben. Die Iraner sehen in jedem Afghanen einen Drogenschmuggler oder Kriminellen. Er arbeitete aber auf dem Bau.
Danach kam Tochter N. zur Welt und noch einige Jahre später der zweite Sohn H. Die Familie bangte, er könne die gleiche Erkrankung haben wie der große Bruder, aber er war gesund, wenngleich er auch sprichwörtlich ein Däumling ist, klein und zart, aber oho, wie man so schön sagt.
Die gesundheitliche Situation von M. verschlechterte sich zusehends. Die Ärzte rieten dem Vater dringend, nach Deutschland zu gehen, vielleicht könne man ihm dort helfen.
Der Vater entschied sich diesen Weg zu gehen. Unterstützt von einem Rollator machten sich die Beiden zu Fuß auf den Weg. Von Teheran in die Türkei. Irgendwann war der Rollator nicht mehr betriebstauglich und der Vater trug seinen 13-jährigen Sohn auf dem Rücken. Manchmal ruderte er ihn auch über Flüsse. Es gelang ihnen nach vielen Monaten über die Türkei nach Griechenland und schließlich nach Deutschland zu kommen. Hier musste der tief erschütterte Vater erfahren, dass man diesen erblichen Defekt auch in Deutschland nicht heilen kann. Seine Hoffnungen wurden zunichte gemacht. Aber M., kaum der deutschen Sprache mächtig, wurde immerhin in einer Universitätsklinik in einer anderen Stadt operiert, damit er besser atmen konnte. Der Vater konnte ihn nicht besuchen, dafür hatte er kein Geld und vielleicht verbietet es auch der Flüchtlingsstatus. Mehr als ein Jahr lebten sie in der ersten Etage einer Flüchtlingsunterkunft. M. bekam einen Rollstuhl, aber er konnte nur heraus, wenn andere Männer sich am Tragen des Rollstuhles beteiligten. Danach bekamen Vater und Sohn eine kleine, behindertengerechte Wohnung in einem Seniorenstift.
Von da an besuchte M. eine Schule für Körperbehinderte und lernt fleißig. Obwohl seine Prognosen so schlecht sind, möchte er einmal studieren. Er spricht schon sehr gut deutsch, ist jetzt 16 Jahre alt und macht gerade seinen Hauptschulabschluss. Er kennt sich und seine körperlichen Einschränkungen genau und versucht, sich danach zu richten und das Beste daraus zu machen. Und die Hoffnung nicht zu verlieren...
Die Mutter bleib mit den drei anderen Kindern zurück in einem sehr gefährlichen Umfeld. Eine Frau ohne Mann, noch dazu in einem anderen muslimischen Land ist Freiwild, auch die Töchter, Kinder noch, lebten in ständige Angst. Ohne den Vater verloren sie den Status "polizeilich gemeldet." Die Töchter besuchten privat organisierte Schulen im Hinterhof. Auf die Straße gingen sie nur zusammen und nahmen immer den kleinen Bruder mit. Irgendwann machten auch sie sich auf den Weg über die Türkei. Darüber weiß Joringel so gut wie nichts. Irgendwann, nach fünfstündiger Überfahrt mit dem Schlauchboot erreichten sie Lesbos, dann mit dem Schiff Piräus, dann Athen und dann wohl München und dann ging es mit dem Zug weiter zu dem Bahnhof, wo der Vater sie abholen wollte. Da alles so unsicher war, wartete nur der Vater auf dem Bahnhof und ließ den kranken Sohn so lange allein in der Wohnung. Und dann kam es zu diesem unglaublichen Wiedersehen, das nicht allen Flüchtlingen vergönnt ist. Danach mussten Mutter und Kinder noch ein paar Monate in ein Aufnahmelager weit entfernt von der Wohnung des Vaters und seinem Sohn M. bleiben. Nun leben sie in der gleichen Stadt in einer Flüchtlingsunterkunft in der Nähe und halten sich natürlich so oft wie möglich in der kleinen Wohnung auf.
Die große Tochter Z. hat es nicht so gut getroffen, sie musste lange auf einen Integrationskurs warten. Ihre Mitschülerinnen und Schüler sind nicht sehr motiviert. Es geht nur langsam voran und Z. möchte mehr, sie möchte endlich in eine reguläre Schule. ihr läuft auch die Zeit davon, denn wenn sie volljährig ist, verliert sie das Recht auf Schulbildung.
Ihre Schwester N. hatte es besser getroffen. Sie konnte früher starten mit dem Integrationskurs und darf jetzt probehalber das Gymnasium besuchen. In Mathe kommt sie gut mit, aber ihre Englischkenntnisse sind kümmerlich. Französisch wurde erst einmal ausgesetzt. Zusätzlich fehlt ihr jegliches "Weltwissen", aber sie und ihre Schwester lernen buchstäblich Tag und Nacht, oft bis ein Uhr.
Der kleine H. wurde jetzt eingeschult. Tagsüber ist er nach der Schule in der Kita und lernt schnell Deutsch, aber sein Heim und Hafen ist seine Familie. Sein Vater holt ihn jeden Tag ab und bringt ihn wieder sicher nach Hause. Wenn ich mit seinen Schwestern lerne ist er ganz leise und spielt Fantasiespiele oder schaut in seinen kleinen Kindercomputer mit reaktiven Spielen, was die Familie nicht so sehr gern sieht.
Mutter H. ist nicht gesund und vielleicht auch durch die vielen Ängste geschwächt. Sie erholt sich aber zusehends und lernt nicht nur Deutsch, sondern auch gleichzeitig schreiben und lesen, denn sie ist Analphabetin. Jorinde hat sehr, sehr viel Geduld und freut sich mit ihr über jeden Fortschritt.
Vater D. besucht regelmäßig die Integrationskurse, aber seine Aussprache ist immer noch ziemlich unverständlich. Er versteht aber schon viel, d.h. sein passiver Wortschatz ist schon ziemlich groß. Er pflegt seinen Sohn, begleitet ihn zum Arzt, wäscht und kleidet ihn und trägt ihn vom Bett in den Rollstuhl oder auf einen anderen Stuhl, denn M.hat auch oft Rückenschmerzen. Der Umgang untereinander ist sehr liebevoll. Joringel sagt, sie haben alle Ängste des Lebens abbekommen und sie sind glücklich, dass sie nun wieder zusammen sind. Alles andere verblasst daneben. Es ist fraglich, ob Vater D. wegen dieser Aufgabe ,den kranken Sohn zu unterstützen, überhaupt noch einmal arbeiten kann, daher wagt Joringel die Behauptung, dass die Eltern ihre Zukunftshoffnung auf die fleißigen Töchter setzen.
Trotz mehrjähriger Wartezeit sind sie noch nicht als Flüchtlinge anerkannt. Z. wurde gerade ein von der EU geförderter zusätzlicher Deutschkurs mit der Begründung verweigert, dass sie ja aus Afghanistan komme.
Auf der Homepage von Pro Asyl kann man sich für afghanische Flüchtlinge einsetzen.