Lieber Robin, Danke, dass Du gefragt hast. Ich bin mir sonst nicht sicher, ob es überhaupt Jemanden interessiert:
Wie ein brutaler Keulenschlag, kam im Frühjahr Post vom BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Der Asylantrag von Mutter Halime und den 3 Kindern ist abgelehnt worden. Sie sollen die BRD binnen 30 Tagen freiwillig verlassen. Kurzfristig werden Sie zur Ausländerbehörde bestellt. Man legt ihnen die freiwillige Ausreise nahe, lockt mit 700 € Startgeld, droht mit Entzug der Sozialleistungen, kein Zugang mehr zur Kleiderkammer, keine Krankenversicherung mehr usw., usw. Bisher hat sich die Familie gegenseitig mit Optimismus, Wärme und Mutmachen gestützt, jetzt kollabieren alle. Und alle Augen richten sich auf Joringel. Joringel hatte schon Anfang des Jahres vorgesorgt, einen Anwalt konsultiert und vorinformiert, die Familie vorgestellt. Also, Anruf beim Anwalt. "Der Herr Doktor ist zur Zeit mit Fortbildung beschäftigt und kann leider keine Mandanten mehr annehmen." Was nun? Telefonate und e-mails ohne Ende, Besuch beim Flüchtlingsrat. Auch Joringel und Jorinde sind erschüttert und müssen alle Kraft aufwenden, um sich zu konzentrieren und die richtigen Schritte in der richtigen Zeit zu tun.
Doch wie von selbst öffnen sich neue Türen. Die Schule der jüngeren Tochter stellt sich öffentlich hinter das Mädchen. Aus den Elternkreisen meldet sich eine entschlossene Mitstreiterin. Ein Lehrer des halberwachsenen Sohnes ist auch im Landtag und verspricht, sich für eine Härtefall-Regelung einzusetzen. Die Ausländerbehörde wiegelt ab: "Wir wussten nicht, dass da noch Vater und Bruder sind.... Familien werden nicht getrennt". Zumal das Verfahren von Vater und Sohn noch offen ist. Es findet sich ein Anwalt, der die Sprache der Familie spricht und das Verfahren aufnimmt. Denn - die Familie hatte keinen Bescheid erhalten, damit wurde das Recht auf Rechtsbehelf verletzt. Doch Joringel hat den schlimmen, unbestätigten Verdacht, dass hier eine relativ wehrlose kleine, unbemittelte und in Rechtsfragen unkundige Gruppe zur Ausreise genötigt werden sollte, um die Ausreise-Statistik anzuheben. Informell erfahren wir von Druck, der auf die Mitarbeiter der Behörde in dieser Beziehung ausgeübt wird.
Und jetzt?
Viel ist inzwischen passiert. Der älteste Sohn der Familie hat den qualifizierten Hauptschulabschluss mit der Note 1,8 geschafft. Er will jetzt den Realschulabschluss machen.
Seine jüngere Schwester sagt bezüglich ihrer Zeugnis-Noten zu Joringel: "Ich bin ganz normal. Ich habe nur Zweien und Dreien." Das "normal" ist ihr am wichtigsten, sie möchte einfach ein junger Mensch sein, der lernt wie andere auch und kein bemitleidenswertes Geschöpf. Einmal kommt es zu einem heiklen Thema: Die Lehrerin möchte N. in privaten Stunden Schwimmen beibringen. N. trägt im Gegensatz zu ihrer Schwester kein Kopftuch mehr. Aber Schwimmen gehen - das ist dann doch noch einmal etwas anderes. Die Eltern sind unsicher, was sollen sie tun? Sie möchten ihre Tochter nicht isolieren, aber für sie wichtige Gebote einhalten. Das kleine Unterstützerteam bezieht die Mutter aktiv mit in die Lösung ein. Ein schicker Neopren-Anzug wird genehmigt, er ist schicklich, aber nicht so freizügig wie er nach ihrer Vorstellung nicht sein sollte.
Der Jüngste der Familie hat jetzt ein Jahr in der Grundschule absolviert. Der Bericht der Lehrerin ist ohne das geringste Defizit. Alles läuft prima und der Kleine zeigt auch eine ausgesprochene Freude am Lernen und Malen und Basteln in der Schule.
Viel Kopfzerbrechen bereitet dem freiwilligen Integrationsteam, bestehend aus Jorinde, Joringel und einer engagierten Mutter des Gymnasiums, die älteste Tochter. Sie musste immer zurückstehen. Geld verdienen, als der Vater mit dem kranken Bruder das Land in Hoffnung auf Hilfe verließ, die kranke Mutter unterstützen. Sie hängt in einem Integrationskurs fest, in dem auch viele weniger motivierte oder begabte Mitschüler sind. Deutsch wird nur im Unterricht gesprochen. Manchmal schickt die Lehrerin sie nach Hause, weil sie für die Nachzügler alles wiederholen muss. Gleichzeitig erlebt sie, wie ihre jüngere Schwester durch den Besuch einer Regelschule fast mühelos in die deutsche Sprache hineinwächst und nach und nach die Sympathien ihrer Mitschüler und Lehrer gewinnt. Mit viel Kraftanstrengung und nicht ohne Konflikte gibt es jetzt zwei Lichtblicke: Z. wurde in die Startstiftung für junge Migranten aufgenommen. In der Zwischenzeit wurden ihr durch private Unterstützung zusätzliche Kurse in Deutsch und Englisch ermöglicht. Eine der gewerblichen Sprachschulen hat jetzt den Preis auf 1/10 des eigentlichen Preises verringert, um ebenfalls ein Weiterkommen dieser überzeugenden Persönlichkeit mit zu befördern. Die allerneueste, brandheiße Nachricht ist, dass die Schule der jüngeren Schwester sie aufnehmen wird. Das Schulamt steht hinter dieser Ausnahmgenehmigung, die bisherige Lehrerin nicht. ("Ich glaube nicht, dass Du das schaffen kannst"). Das ist ein sehr, sehr harter Weg, denn es geht zum Gymnasium aus formalen Gründen nur noch direkt in die Oberstufe.
Und juristisch? Nach fast vier Jahren Wartezeit wurde auch der Asylantrag von Vater und Sohn abgelehnt. (Joringel hätte sich so etwas Grausames nicht vorstellen können!) Denn inzwischen hat unsere Bundesregierung im Einvernehmen mit der EU die Maschen des Netzes so eng gezogen, dass es sehr, sehr schwer ist, überhaupt als Asylsuchender anerkannt zu werden. Ihr kennt ja die Diskussion über das sichere Herkunftsland. Trotzdem wurde ein nationales Abschiebeverbot ausgesprochen, weil Sohn M. 100% behindert und von einer progressiven Krankheit bedroht ist. Das private Team hat dennoch zwei Klagen angestrengt, um einen sichereren Aufenthaltsstatus für beide Teile der Familie zu erreichen. Das Ergebnis steht noch aus, aber die politische Lage verändert sich ja gerade wieder.
Das freiwillige Integrationsteam hört manchmal Sätze wie: "Kümmert Euch erst einmal um arme Deutsche. Davon gibt es hier auch genug." Wenn das sehr agressiv kommt, antwortet Joringel: "Woher wissen Sie dann, dass wir uns nicht auch um arme Deutsche kümmere?" Das sitzt meistens. Aber lieber würden wir sagen, wir kümmern uns um Menschen, die vorübergehend Hilfe brauchen. Und ist dankbar für das Gleichnis vom Armen Samariter. Da steht es - Hilfe ohne Ansehen der Herkunft. Wie kann man sich mit der christlichen Lehre beschäftigen ohne diese Beispiele wahrzunehmen? Wie machen die christlichen Fundamentalisten in den USA das? Reißen die einfach Seiten aus ihrer Bibel?
Und noch ein Gedanke - was ist mit denen, die nicht das Glück haben auf Menschen ohne Grenzen im Kopf zu treffen? Die irgendwo abseits in einer Unterkunft leben müssen - ohne Kontakte zu Deutschen, ohne Input aus der Gesellschaft, die sozusagen sich selbst überlassen sind. Die mit dem Rechtsbehelf gar nichts anfangen können und auch nicht wissen, wie sie sich helfen könnten? Daher großen Respekt vor den Menschen, die in Vereinen wie "Pro Asyl" oder "Flüchtlingsrat" diese Hilfe mit großem Engagement zu institutionalisieren versuchen. Jede Hilfe ist hier willkommen, zum Beispiel, wenn man auch mal auf Geburtstagsgeschenke verzichtet und stattdessen mit freiwilligen Spenden diese Gruppen unterstützt.
Und jetzt kommt das allerletzte Wort für diesen Beitrag: Die von uns betreute Familie ist sicher besonders sympathisch. Arm in Arm sitzen Vater und Mutter oft auf dem Sofa und wiederholen die deutschen Wörter. Die Kinder sind untereinander und besonders zu der verängstigten Mutter sehr liebevoll. Sie nehmen die Hilfe von Außen mit großem Engagement und Verantwortungsbewusstsein an. So werden aus "armen Flüchtlingen" lieb gewonnene Gefährten des eigenen Lebens. Und das ist dann etwas, was man (sicher nicht im Sinne von Donald Trump) Bereicherung nennen darf.