Liebe Leser,
für die Veröffentlichung des Gedichtes von Primo Levi andieser Stelle gibt es viele Gründe, die Ihr selbst auch überdenken könnt. So schlimm es auch ist, aber für den Mord an Juden wurden Worte gefunden. Menschen versuchen, das Grauen auszudrücken, sich über das Grauen anderen mitzuteilen. Das ist schwer genug. Ich las neulich noch über die Biographie eines amerikanischen Soldaten, der als einer der ersten in einem kleineren Konzentrationslager mitten im Wald ankam. Auf diese Situation waren er und sein Begleiter nicht vorbereitet. Heute ist er über 80 Jahre alt und geht immer noch zur Psychotherapie, weil er allein seinen Erinnerungen nicht standhalten kann. Seien wir doch ehrlich mit uns selbst - nur schemenhaft nehmen wir alles was mit Auschwitz im Zusammenhang steht, wahr. Wir retten unsere Seelen indem wir nicht so genau hinschauen. Schon das nachträgliche genaue Hinschauen könnten wir nicht aushalten. Doch manchmal trifft uns dieser Erkenntnisstrahl in Gedichten, in Dokumentationen, Zeitzeugenberichten, Fotos. Da steht sie, die alte Dame, auf einen Stock gestützt mit einem feinen Hütchen auf dem Kopf und einem winzigen Köfferchen vor der geöffneten Tür eines Viehwagons. Neben ihr in Uniform der deutsche Herrenmensch mit seiner Waffe. Wenn wir es könnten, wie würden wir "anhalten, anhalten" schreien und den Film rückwärts laufen lassen.
Aber wer hat Worte für die Ermordung von den kranken und hilflose Menschen, die wir "behindert" nannten und für die die Nazis todbringende Etiketten hatten, die ich nicht wiederholen will. Hat mal jemand versucht, diese Auslieferung der Hilflosen in Worte zu fassen? Haben wir nachträglich mit unseren Kindern und Enkeln gesprochen und ihnen gesagt, was wir getan und wie wir versagt haben? Haben wir Tafeln geschrieben, auf denen die Namen festgehalten wurden?Haben wir Gebete für unsere Mitschuld formuliert? Haben wir in Schriften dargestellt, welche Menschen in den Tod geschickt wurden und wie ihre Familien darunter gelitten haben? Wie sie mit plumpen Lügen getäuscht wurden? Der Weg aus der vertauten Umgebung in die Vernichtungsmaschinerie war kurz, der Tod lange und qualvoll. Bei welcher Gelegenheit sagen wir der Jugend, was passiert ist? Ist es eine bedauerliche Episode in unserer Geschichte oder ein Fanal dafür sich immer bewußt zu sein, was Menschen Menschen antuen können?
Wassermann