Vor der Tür ist es ganz stilll

#1 von Joringel , 07.02.2016 17:52

...man sollte nicht glauben, dass hier 6 Menschen leben. Als ich das Appartement betrete, stehen alle auf bis auf den ältesten Sohn M., der seinen Rollstuhl nicht aus eigener Kraft verlassen kann. Strahlend werde ich empfangen. "Wer will heute Deutsch lernen?" frage ich. Die Familie ist sich einig, heute ist die dreizehnjährige N. dran. Sie geht seit vier Tagen in einen Intensivkurs in einer hiesigen Schule. Bei strömendem Regen hatte ich mit ihr den Schulweg geübt, war mit ihr die letzten 400 m gelaufen. Auch bei der "Einschulung" war ich dabei. Die Sekretärin, die Klassenlehrerin alle waren freundlich und zuvorkommend. Aus der Klasse scholl es: "Hallo, willkommen", alles ausländische Jugendliche. Zwei weitere Mädchen sprechen persisch, eine davon ganz gut englisch. "Sie übersetzt mir für die Persisch sprechenden Schüler und Schülerinnen, wenn es mal hakt", klärt mich die Klassenlehrerin auf. Schnell organisiere ich noch jemanden, der mit der gleichen Buslinie wie N. nach Hause fährt, denn im Ernstfall könnte sie niemanden fragen. Und sie muss einmal umsteigen. Englisch kann sie kaum. Inzwischen ist der Schulweg schon fast zur Routine geworden.
Aber die Klasse ist im Deutschübungsheft schon bei Kap. 5, die ersten Kapitel fehlen ihr. Sie hat schon selbst die Übungsaufgaben-Aufgaben gelöst, jetzt gehen wir sie gemeinsam durch, besprechen Fehler oder Missverständnisse. Zwei Stunden intensiv und ohne Pause. Artikulieren die Wörter korrekt. Wo noch Sätze oder Wörter einzufügen sind, staune ich wie schnell N. unsere lateinischen Buchstaben schreibt. Sie schreibt fast schneller als ich. Es sind auch minimale mathematische Fragen eingestreut. Das macht Sinn, die Schüler sollen nach kurzer Eingewöhnungszeit auch Mathe-Unterricht bekommen. Während wir beide auf dem niedrigen Sofa sitzen, haben Vater und Mutter sich auf dem Teppich niedergelassen. Der Vater lernt mit seiner Frau in seinem Deutschkursbuch. Sie ist erst vor drei Monaten mit drei Kindern nachgekommen und durfte das Aufnahmelager erst vor kurzem verlassen.
Neben mir an einem kleinen Tischchen sitzt M. im Rollstuhl und macht Hausaufgaben. Seine Schwester Z. macht alles synchron mit. Sie hat noch keinen Platz in der Schule. Der kleine M. geht seit vier Tagen in eine Vorschule 11/2 Stunden am Tag. Sein Vater ist enttäuscht, dass es nicht mehr ist. Aber die Kapazitäten an Lehrkräften sei erschöpft hören wir. Der Sekretärin in der Grundschule ist die Überlastung deutlich anzumerken. Sie schreit die ankommenden Eltern an. Diese haben rote Zettel in der Hand mit der Zimmernummer und dem Namen der Schule. "Ohne Dolmetscher geht hier nix! Verstehst Du nix!" schreit die Sekretärin. Doch die Eltern verstehen nichts, halten ihr verzweifelt den roten Zettel vor die Augen. Die Schulleiterin kommt aus ihrem Zimmer und spricht mit der Sekretärin. Sie deutet auf den kleine M.: Das ist der Letzte, jetzt können wir keinen mehr nehmen. Bis die anderen Eltern verstanden haben, was von ihnen erwartet wird und vielleicht einen Dolmetscher bekommen,nimmt diese Schule niemanden mehr auf. Dann kommen sie wieder umsonst. Jeder sollte einen Bürger als Lotsen haben, denke ich. Der kleine M. spielt die ganze Zeit still vor sich hin. Als ich ihn nach der Vorschule frage, strahlt er glücklich. Viele Monate war er isoliert und auf dem gefahrvollen Weg zu seinem Vater und Bruder. Jetzt kann er endlich mit anderen spielen. Er kann schon super Zahlen aufsagen und spricht mir jedes deutsche Wort nach, das ich ihm vorspreche.
Es grüßt Euch
Joringel


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zuletzt bearbeitet 07.02.2016 | Top

   

Sie umklammert die Bleistift wie einen Rettungsanker
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