Tu Deinen Mund auf für die Schwachen

#1 von Joringel , 31.07.2014 21:19

Liebe Besucher unseres Forums,

im Zusammenhang mit der Diskussion um das "Gesundheitsmanagement" der Neinstedter Anstalten haben wir auch das Thema "Euthanasie" gestreift. Es ist eines der dunkelsten Kapitel Deutschlands und es ist schwer sich dem anzunähern. Eine Forumsteilnehmerin hat einen Link eingestellt, über den man sich dem Thema über die Vorgänge in den Neinstedter Anstalten annähern kann, wo man aber auch erfahren kann, dass es nur wenig Zeitdokumente gibt.
Hinweisen möchte ich auf eine Veröffentlichung von Dr. Edmund Käbisch: Tu deinen Mund auf für die Schwachen.Zwangssterilisation und Euthanásie während des Nationalsozialismus, Arbeitsmaterialien und Arbeitsblätter für den Geschichts-, Ethik- und Relgionsunterricht. ISBN 978-3-929351-38-5
Verlag Editions La Colombe
Diese Broschüre ist im wahrsten Sinne des Wortes bewegend. Dr. Edmund Käbisch zeigt, dass es ihm möglich war, junge Menschen, Schülerinnen und Schüler an dieses Thema heranzuführen und diese dann eine beeindruckende Initiative des Nachforschens und Gedenkens starteten. In den Kapiteln "Unterrichtsmaterialien" von M0 bis M13 finden sich dann zahlreiche Dokumente, hauptsächlich aus dem Raum Zwickau, die ein Schlaglicht auf die damalige Situation werfen. Aus Zahlen werden wieder Menschen, denen man in ihrer Hilfosigkeit unsägliches Leid zugefügt hat. Wir sind es ihnen schuldig, dass wir nicht nachlassen, sie zurück in unsere Erinnerung zu holen. Vielleicht kann dieses Material uns allen und auch interessierten Bürgern in Neinstedt helfen, sich eine Vorstellung von dem Unrecht der Zwangssterilisation und der Euthanasie zu machen.
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Dieser Link führt zu einem Euthanasie-Bericht des Landes Sachsen-Anhalt, über Neinstedt ab S. 60
http://www.stgs.sachsen-anhalt.de/filead...es_-_Teil_1.pdf


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RE: Tu Deinen Mund auf für die Schwachen

#2 von dr.arndt , 01.08.2014 11:05

Lieber Joringel,

vielen Dank.Habe gerade den Beitrag von Jürgen Wieggrebe über Neinstedt gelesen. Erschütternd.

Achim


Gemeinsam sind wir stark!

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RE: Tu Deinen Mund auf für die Schwachen

#3 von Robin , 01.08.2014 13:54

Liebe Joringel!
Auch ein Onkel von mir ist Opfer der Euthanasiemorde geworden. Er war in Lobetal untergebracht. Dann erhielt meine Mutter, die für ihn nach dem Tod der Eltern die Verantwortung trug, einen Bescheid über die Verlegung. Kurz danach einen amtlichen "mitfühlenden" Beileidsbrief einer wiederum anderen Anstalt, dass man ihr die traurige Nachricht machen müsse, dass ihr Bruder an ... verstorben sei. Die Urne würde ihr zugeschickt. Wie vor den Kopf geschlagen saß meine Mutter über diesem Brief (der noch heute ihre Tränenspuren zeigt). Dann folgte ein unter der Hand weitergegebener aufklärender Brief von Pastor Braune, dem Leiter der Lobetaler Anstalten. Er wies als erster nach, dass die abtransportierten Kranken ermordet würden. Sofort beteiligte sich meine Mutter an der Kette derer, die diesen Aufklärungsbrief von Pastor Braune heimlich abschrieben und weitergaben, um diese Ungeheuerlichkeit zu verbreiten. Noch später schilderte sie mir ihre Fassungslosigkeit darüber, dass eine staatliche Regierung (welcher Art auch immer) Mordtaten begeht und solch eine Aktion leitet. "Das kann doch nicht sein! Und der zugeschickte Brief war doch so mitfühlend gemacht!"
Meines Wissens erhielt Pastor Bodelschwingh in Bethel über Pastor Braune die Kenntnis von der Ermordung der Kranken. Und mit einigen Hinhaltetricks soll es Bethel ja auch gelungen sein, seine Kranken zu retten. Doch der eigentlich Umschwung geschah erst durch die öffentlichen Predigten des Kardinal von Gahlen in Münster. Er stellte auch den Soldaten vor Augen, dass sie, wenn sie als Kriegsversehrte und Krüppel von der Front zurückkehren würden, zu solchen Opfern der Euthanasie werden könnten - Und das allein - so jedenfalls wurde ich informiert - brachte die Wende. Das zwang die Machthaber zum Rückzug.
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RE: Tu Deinen Mund auf für die Schwachen

#4 von turmfalke , 01.08.2014 16:39

Liebe Robin!

Nun kann ich es doch nicht lassen zu antworten. In der diakonischen Einrichtung Lobetal in Celle ist am Eingang der Kirche zum Guten Hirten ein anrührendes Mahnmal mit einer eindrücklichen Plastik in weißem Marmor aufgestellt und dazu eine Erinnerungstafel an die ermordeten kranken Bewohner der Anstalt. Dort wird ausdrücklich an die Opfer der Nazis gedacht.

Wenn eine Familie so etwas erlebt hat, vergisst sie es nicht mehr. Daraus erwächst eine Motivation, sich selber neuem Unrecht entgegenzustellen, wo es einem begegnet.

Liebe Grüße!

Turmfalke


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RE: Tu Deinen Mund auf für die Schwachen

#5 von Joringel , 08.08.2014 14:19

Lieber Turmfalke,
das Gedenken ist das Eine und das Nachforschen das Andere. Auch in Neinstedt gibt es seit 1993 ein Denkmal. Der Text von Pastor Jürgen Wieggrebe, auf den man mit dem oben genannten Link geführt wird, enthält ausdrücklich einen Appell, noch mehr Material zusammenzutragen. Und ich möchte es einmal so formulieren: Wenn es Opfer gab, gab es auch Täter zumindest Zuarbeiter. Weder zu den Opfern noch zu den "Tätern" gibt es leicht zugängliches Material. Die Broschüre "Tue Deinen Mund auf für die Schwachen..." von Dr. Edmund Käbisch herausgegeben beweist jedoch, dass es möglich ist, aussagekräftige Dokumente zu finden. Vielleicht nicht so viele, aber immerhin so viele, dass aus Zahlen wieder Menschen werden. Aus allem, was sich so im Internet findet, und von Jürgen Wieggrebe wird es auch angesprochen, wird deutlich, dass die damaligen Diakone sich dem nicht entgegengesetzt haben, eher das Gegenteil. Aber wo und wie wurde das aufgearbeitet? Hat man einfach nur still den Kopf gesenkt?
Und wenn heute die Menschenwürde verletzende, kapitalistische Maßstäbe (Beispiele gibt es genug) in die Pflege eingeführt werden würden, würden sie dann wieder still den Kopf senken? Oder hat das christliche Gewissen in Neinstedt eigene Gedanken und Thesen zu seinen Diensten und mischt sich hier und da ein oder fragt einmal nach? Gibt es ein "bis hierher und nicht weiter?" Oder kommt eine gewisse eigentümliche Neinstedter Verklemmung einfach daher, dass alle von unten bis oben nur miteinander flüstern? (Ich spiele da auf einen gewissen Theo an, der vorgibt einiges zu wissen, aber nur Andeutungen weitergibt. Vielleicht ein zaghafter Diakon? Dann müsste er sich mit anderen zusammenschließen.)

Hier das besagte Zitat aus Jürgen Wieggrebe „Entlassen: Altscherbitz“ - Zwangssterilisation und „Euthanasie“ an Bewohnern der Neinstedter Anstalten 1934 - 1943
Die Frage, wie wir mit dem umgehen können,was wir an Bruchstückhaftem über die Geschehnisse während des „Dritten Reiches“ in Neinstedt wissen, beschäftigt uns auch heute intensiv. Nach wie vor muss Material zusammengetragen und ausgewer-
tet werden. Aber das allein kann uns nicht helfen, uns dem Unfasslichen der „Euthanasie“-Morde zu nähern. Das Denkmal für die Opfer der „Euthanasie“ ist der Versuch, einen anderen Zugang zu finden. Es steht in unmittelbarer Nähe zum Haupt-
portal der Lindenhofskirche, an zentraler Stelle auf dem Anstaltsgelände. Wenn sich nach dem Gottesdienst die Besucher vor dem Eingang der Kirche treffen, so stehen die Figuren aus Marmor neben ihnen: sie werden ein Teil unserer Gemeinde. Sie
sind ‘unter uns’ und sollen dazu auffordern, uns auch dann der Geschehnisse bewusst zu sein, wenn wir die Aktendeckel schließen. Und sie sollen uns wach halten für neue Tendenzen, die die Würde und den Wert kranken und behinderten Lebens
in Frage stellen.


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RE: Tu Deinen Mund auf für die Schwachen

#6 von azalee , 09.08.2014 13:32

Frank Hirschinger: "Zur Ausmerzung freigegeben" ( Altscherbitz)
Altscherbitz (Schkeuditz) war eine Art "Verschiebebahnhof" . Grüne Busse mit undurchsichtigen Scheiben brachten die Psychisch Kranken und die , die dafür gehalten wurden, in die einzelnen Orte , wo sie "ums Leben kamen" , wenn sie nicht schon in Altscherbritz an bestimmten Krankheiten wie z. B. Lungenentzündung , starben. Denn im Krankheitsfalle wurde ihnen keinerlei Hilfe gewährt.


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RE: Tu Deinen Mund auf für die Schwachen

#7 von Robin , 14.08.2014 12:02

Liebe Joringel und Ihr anderen Leserinnen!
Ich habe nun einige Dokumente herausgesucht, zum Tod meines Onkels, aber auch über die Aufklärung Bodelschwinghs durch Pastor Braune und einen Ausschnitt aus einer Predigt des Bischofs von Münster Kardinal von Gahlen vom 3.8.1941.
Wer Interesse hat, möge die Texte lesen.
Wir müssen uns auch heute noch klarmachen, unter welcher Geheimhaltung die Mordaktion an den Kranken stand. Wer eine Vermutung aussprach oder eine Erkenntnis weitergab, dass die Abtransportierten möglicherweise ermordet würden, wurde mit KZ bedroht, da er ungeheuerliche Verleumdungen gegen den Deutschen Staat und das Deutsche Volk ausspreche. Es wurde wie gemordet, so eben auch gelogen.
Was Ihr über Neinstedt und die dortigen Abtransporte in Erfahrung bringt, müsst Ihr einfach in diesen Gesamtrahmen der Euthanasiemorde und ihrer Geheimhaltung einordnen.
Die Mordaktion wurde erst im Herbst 1941 abgebrochen, weil sich Unruhe in der Bevölkerung ausbreitete, weil vor allem aber der Krieg gegen die Sowjetunion begann. Da konnte man keine Unruhe an der "Heimatfront" gebrauchen. Doch nun begann der Mord an den Juden, und der fand nicht mehr im Reich, sondern jenseits im Osten in den eroberten Gebieten statt. Damit die Geheimhaltung noch besser funktioniere. Öffentlich war ja immer "nur" von Abtransporten in Arbeitslager die Rede.
Ich sage es noch einmal: Es war für die Generation unserer Eltern und Großeltern nicht zu fassen, dass der Staat, also die Obrigkeit, Mordaktionen an unschuldigen Menschen durchführte und in Auftrag gab. Das konnten und wollten sie nicht glauben. Das hatte es in der bisherigen deutschen Geschichte nicht gegeben, Kriege ja, aber nicht Mordaktionen.
Robin

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Euthanasie Bericht Pergande.pdf Euthanasie O. M..pdf Euthanasie Predigt Bischoif Gahlen.pdf
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RE: Tu Deinen Mund auf für die Schwachen

#8 von Joringel , 14.08.2014 12:20

Hallo, Robin, Danke für Deinen Einwurf und die Dokumente. Ich bin beeindruckt und werde mich damit beschäftigen. Joringel


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RE: Tu Deinen Mund auf für die Schwachen

#9 von Robin , 14.08.2014 12:21

Hier noch ein Nachtrag: Die Dokumente zum Tod meines Onkels O.M. stammen aus einer Familiengeschichte, die sein älterer Bruder 1969 verfasst hat. Der zweitletzte Satz seines Berichts: "Olaf war durch Gas umgebracht worden."
Robin

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