Lieber Turmfalke!
Du schreibst: "Man kann dem nicht entfliehen, wenn Vorgesetzte einmal ein Urteil über einen gefällt haben." Das ist sicher richtig so. Das ist wohl die heutige protestantische Variante des Unfehlbarkeitsdogmas der kath. Kirche. Roma locuta, res finita. Wenn eine Entscheidung einmal gefällt ist (im Kolosseum der vom Imperator nach unten zeigende Daumen), dann wird sie mit allen nachfolgenden Konsequenzen durchgezogen. Da bleibt dann nur, wie Du ganz richtig schreibst, die Notwendigkeit, sich nicht verhärten zu lassen, nicht Schaden an der eigenen Seele zu nehmen. Ethisch bedeutsam finde auch ich es, "wenn Leute aus den oberen Etagen einer Kirchenleitung sich erst einmal einem gegenüber ins Unrecht gesetzt haben. Sie müssen weiter mobben und versuchen einzuschüchtern, damit nicht bekannt wird, was sie getan haben." Gut formuliert! Der Glaubenssatz "Er wird kommen, zu richten die Lebenden und die Toten!" schreckt einige Leute, die in diesen Etagen arbeiten, offensichtlich gar nicht ab: Die oberste Maxime ist eben nicht (wie bei Luther) die Frage: "Wie bekommme ich einen gnädigen Gott?", sondern vielmehr der allzumenschliche Wunsch und das letztlich armselige Unterfangen, vor den jetzt lebenden Zeitgenossen als aufrecht, als treu der bisherigen Einschätzung dazustehen frei nach dem Motto: Je mehr Verantwortung ich trage, umso mehr muss ich bereit sein, auch unangenehme Entscheidungen zu fällen. Da ist dann kein Raum, die eigene Entscheidung zu revidieren; eben nicht "variatio delectat". Es gibt keine Variationen und keine Veränderungen. Wenn ein hochedles Gremium eine Entscheidung gefällt hat, dann kann sie nicht verkehrt sein. Auch nicht, wenn es eine juristisch ganz schwache Beschlussvorlage des juristischen Referates gegeben hat. O.k.; nach 50 Jahren kann man dann so was ablassen wie vielleicht ein "Stuttgarter Schuldbekennntnis". Da gibt es dann eine - wieder von oben - verordnete General-Reue und ein paar Krokodilstränen. Aber so etwas versucht man natürlich erst einmal versuchen zu vermeiden: durch Mobbing nun auch von oben und durch Einschüchterung, damit der gute Ruf des edlen Gremiums nicht leidet. Schließliich muss es doch so bleiben: Je höher der Rang, umso höher muss auch das Ansehen sein. Das ist auch so etwas wie ein Dogma, was sakrosankt ist: Die kleine Angestellte oder der Pfarrer, das kann doch nur einer/eine sein, der was falsch gemacht hat. Oben wird natürlich immer richtig gehandelt, weil die Oberen ja den vorgeblichen Überblick haben und gar nicht falsch handeln können. Es sind die Gutmenschen, die qua Amt und Ansehen immer richtig liegen. Whistleblower, also Menschen, die auf Mißstände hinweisen, sind zu eliminieren. Sie stören das System. Womit wir bei der nicht neuen Erkenntnis angelangt wären, dass ein jedes System starke Selbsterhaltungskräfte hat, die den status quo beibehalten wollen. Ein Luther kann also nur stören und muss dransaliert werden. Doch, lieber Turmfalke, Du zitierst ja zu Recht auch die letzte Strophe von Biermanns Lied: "Wir wollen es nicht verschweigen in dieser Schweige-Zeit: Das Grün bricht aus den Zweigen, wir woll´n das allen zeigen,
dann wissen sie Bescheid, dann wissen sie Bescheid." Ein jedes System, was sich aufrecht erhält durch Machtmißbrauch, durch Mobbing und seelische (ganz zu schweigen von körperlicher) Mißhandlung von Mitarbeitern, wird irgendwann zusammenbrechen. Das sagt uns auch Jesus im Matthäus-Evangelium, Kapitel 23: "Auf des Mose Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer...aber nach ihren Werken sollt ihr nicht tun....Alle ihre Werke tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden....Sie sitzen gerne obenan bei Tisch und in den Synagogen und haben's gerne, dass sie gegrüßt werden auf dem Markt.....Euch Schriftgelehrten und Pharisäern wird es schlimm ergehen. Ihr Heuchler! Ihr seid wie weiß getünchte Gräber: mit einer sauberen, ordentlichen Außenseite, doch innen voller Gebeine und Schmutz. Ihr gebt euch den Anschein rechtschaffener Leute, doch euer Herz ist voller Heuchelei und Gesetzesverachtung (Schluss aus der "Neues Leben"-Übersetzung). Gottes Wille gegenüber dem Zusammenleben der Menschen (und das bedeutet natürlich auch das Funktionieren von System, die doch den Menschen dienen sollen) ist nicht neu, muss aber immer wieder gesagt werden: "Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!" (Amos 5,24). Daran müssen wir alle uns messen lassen, denn "er wird kommen, zu richten die Lebenden und die Toten!"