Wie war das nochmal mit Platon?

#1 von Joringel , 07.10.2016 10:04

Ihr erinnert Euch, Joringel versucht einer Flüchtlingsfamilie bei der Eingliederung zu helfen. Er beobachtet erstaunliche Entwicklungen. In öffentlichen Diskussionen kommt meistens das Sorgenvolle zum Vorschein. Hier sehe ich bei einfachen Menschen das Glück der Freiheit. Besonders bei den Kindern bzw. Halberwachsenen. In den Slums von Teheran trauten sich die Töchter kaum vor die Tür, hier fühlen sie sich sicher und blühen sichtlich auf. Die 14-jährige N. darf nach einem halben Jahr Deuschtunterricht (!) probeweise das Gymnasium, 8. Klasse besuchen. Jetzt muss sie mit ihrem kümmerlichen Englisch klar kommen und dazu noch Französisch lernen. Jammern - ein Fremdwort, denn sie will es unbedingt schaffen: "Joringel, kannst Du auch Französisch?" Ein Freudenschrei, als ich bejahe, und schon geht es los. Grammatik, Aussprache, Vokabeln, Unterschiede zum Englischen.
Und dann die bange Frage: Kannst du morgen wieder kommen? Ich habe noch so viele Fragen...." Am nächsten Tag - Ethik. Im Lehrbuch steht nach einem gewissen Vorlauf das Gleichnis des Samariters. Die Frage (Hausaufgabe) lautet: Mit welchem platonischen Begriff der Liebe bezeichnest Du, was in dieser Geschichte geschieht?" Unser Teenager weiß weder, was Platon bedeutet, noch Philosophie, noch versteht sie die Geschichte. Also erst einmal ein kleiner Rückblick in die Geschichte mit Betonung der Bedeutung Griechenlands für unsere Kultur (Zwischenfrage: Was ist Kultur?), dann Begriffserklärung (Eros, Philia, Agape), dann Analyse des Gleichnisses. Joringel zweifelt an sich. Hoffentlich rede ich nicht zuviel, denkt er. Sie schaut mich immerzu konzentriert an. Dann kommt die Rückmeldung. "Ja, das habe ich verstanden." Mal sehen, was ich demnächst noch alles in meinem Kopf wieder finden muss.

Es grüßt Euch
Joringel


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RE: Wie war das nochmal mit Platon?

#2 von turmfalke , 08.10.2016 10:56

Lieber Joringel!

Welch beglückende Erfahrung! Vor einigen Jahren habe ich in gleicher Weise auch eine iranische Familie begleitet. Das war noch vor dem großen Ansturm von Kriegsflüchtlingen vom letzten Jahr. Und ich habe Ähnlichges erlebt: Inteligente und sehr wissbegierige Menschen, die uns motivierten, noch einmal selbst über die eigenen kulturellen Wurzeln nachzudenken.

Es gab offensichtlich einen echten Asylgrund nach unserem deutschen Asylrecht: Der Vater war im Iran aufgrund persönlicher Verwicklungen mit dem Leben bedroht und musste fliehen. Das konnte er aber nicht nachweisen. Das Mitführen von einschlägigen Dokumenten, die vor unseren Gerichten Beweiskraft gehabt hätten, wäre lebensgefährlich gewesen. Asyl bekamen sie in Deutschland dann trotzdem, als sie sich dem christlichen Glauben zuwandten, sich taufen ließen und sich aktiv in unserer Kirchengemeinde engagierten.

(So detailierte Asylverfahrebn gibt es heutzutage vermutlich gar nicht mehr, weil unser Staat das aufgrund der großen Zahl gar nicht leisten kann.)

Darf ich aber auch eine nachdenkliche Vermutung zu deinen Leuten äußern: Es sind vermutlich Menschen aus einer gebildeten Oberschicht im Iran, die auch schon vor ihrer Flucht zur Schule gegangen waren und bereits ein Interesse an Bildung entwickelte hatten. Und möglicherweise steht im Hintergrund auch materieller Besitz im Iran, den sie bei der Flucht zurücklassen mussten, den sie aber irgendwann mit Helfern Stück für Stück nach Deutschland holen können.

Vermutlich werden diese Jugendlichen in einigen Jahren mit akademischen Ausbildungen gut in Deutschland leben können und eine große Bereicherung für unser Land sein. Dabei werden sie nie vergessen, dass sie Iraner sind.

Viel Glück!

Turmfalke


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RE: Wie war das nochmal mit Platon?

#3 von Joringel , 09.10.2016 20:32

Hallo Turmfalke und andere Interessierte,
diese Familie stammt ursprünglich aus Afghanistan. Dort wurden sie von den Taliban verfolgt, weil sich die Ehefrau nicht mit einem Taliban zwangsverheiraten lassen wollte. Ihr frei gewählter Ehemann wurde daraufhin ermordet. Sie heiratete seinen Bruder und beide flohen in den Iran. Sie lebten dort in Teheran einem Viertel, das als Slum bekannt und berüchtigt ist. Die vier Kinder sind alle in Teheran geboren. Eines der Kinder ist schwerst körperlich behindert. In Teheran gingen sie nicht in eine öffentliche Schule, die Iraner verachten die Afghanen und sehen in ihnen nur Drogenschmuggler. Das ist allgemein bekannt. Es gab wohl selbstorganisierte Schulen in Hinterhöfe, aber bescheiden in den Möglichkeiten . Der Vater kam zuerst mit dem schwer behinderten Kind. Er hatte es selbst durch Flüsse gerudert und hunderte von Kilometern auf dem Rücken getragen. Die Ärzte hatten ihm geraten zu versuchen nach Deutschland zu kommen, damit ihm medizinisch geholfen wird. Ich glaube, sie waren fast 2 Jahre unterwegs. In Deutschland lebten die beiden in einer Flüchtlingsunterkunft im zweiten Stock, sie kamen kaum heraus, da das kranke Kind immer getragen werden musste. Nach einem Bericht in der Zeitung bekamen sie dann eine kleine behindertengerechte Wohnung. Nach drei Jahren der Trennung kam die Frau mit den drei anderen Kindern nach. Sie ist Analphabetin und traumatisiert, krank dazu, aber sehr tapfer. Und überglücklich für das kranke Kind da sein zu können. Die beiden Töchter ergreifen ihre Chancen mit großem Verantwortungsbewußtsein und großer Freude. Das vierte Kind wurde gerade eingeschult. Diese Vier sind auch mit dem Schlauchboot gekommen, es hat über 5 Stunden gedauert. Alle sind jetzt interviewt, die Entscheidung ist noch nicht gefallen. Heute haben wir von 11.00 bis 15.00 Uhr non-stop Englisch gelernt. Gestern haben wir eine Wohnung besichtigt, wo sie zusammen leben könnten. (Noch leben die Vier in einer Flüchtlingsunterkunft zu viert auf 18 qm, wie sollen sie da Schularbeiten machen? "Meine" Flüchtlinge können es natürlich in der Wohnung des Vaters machen, aber die anderen?) Wir bangen jetzt um den Zuschlag. Ich war auch da, um für die Familie zu sprechen und der Vermieterin die Angst zu nehmen.
Es grüßt Euch Joringel, dem es Freude macht, dieser Familie helfen zu können, egal, was rundherum gemosert und gerechnet wird.


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RE: Wie war das nochmal mit Platon?

#4 von turmfalke , 10.10.2016 13:48

Lieber Joringel,

Du erzählst eine bewegende Geschichte. Die Familie ist also schon seit Langem auf der Flucht. Die Kinder kennen keine andere Situation, als die unterwegs und fremd zu sein.

Ich habe in all den Jahren ein wenig Erfahrung gesammelt:

Die vorherschende Landesprache in Afghanistan Farsi, ist gleichzeitig auch die Hauptsprache Persiens. Sie konnten sich also in Theheran in ihre Mutersprache verständigen.

Dass es unter diesen Umständen für die Kinder als Mädchen dennoch fast unmöglich war, im Iran Schulbildung zu erwerben, liegt auf der Hand. Dabei gibt es in Persien durchaus gebildete Frauen.

Dennoch ist es sehr erstaunlich, dass sie nun auf dem Gymnasium sind.

Du hast mit Deinem Bericht aber noch nicht beschrieben, wie die Lebenssituation in Afghanistan war. Immerhin hat die tapfere Frau es gewagt, sich einer Zwangsverheiratung zu entziehen. Das bedeutet Rückgrad, Mut und wohl auch eine große Liebe zu ihrem ersten Mann. Dass dann ein Bruder an seine Stelle getreten ist, wäre uns Deutschen wohl fremd, aber in einem orientalischen Volk durchaus vorstellbar. Verantwortung innerhalb der Familie ist für die Leute das Wichtigste. Vermutlich hat er so der Freundin seines Bruders das Leben gerettet. Wenn er nicht mit ihr zusammen geflohen wäre, dann wäre sie entweder doch zwangsverheiratet worden oder sie wäre auch ermordet worden.

Die Eigendynamik dieses Lebensschicksals ist so klar, dass man jetzt damit rechnen kann, dass die Frau und die Kinder auch in Deutschland Asyl bekommen. Die Richter, die darüber zu entscheiden haben, konnten inzwischen genügend Kenntnisse der Verhältnisse in Afghanistan erwerben, um dass sofort zu erkennen. Wenn das gleiche Asylverfahren bereits vor einigen Jahren passiert wäre, als die Zahl der zu bearbeitenden Fälle noch geringer war, dann hätte die Familie sicherlich Asyl bekommen. Aber ich denke, auch jetzt stehen die Chancen nicht schlecht. Das Thema "Zwangsverheiratung" und das Thema "Fürsorge für ein behindertes Kind" müsste eindeutig genug sein.

Und wenn der Antrag abgelehnt werden sollte, wohin sollten sie denn abgeschoben werden? In den Iran, wo sie ebenfalls wieder Flüchtlinge wären ( der Iran nimmt sie vermutlich gar nicht wieder zurück), oder nach Afghanistan, wo die Kinder nie gewesen sind und wo inzwischen wieder eine Verschärfung des Krieges droht ? !

Also ich mache euch Mut. Und dass du der Familie hilfst, ist Gold wert. Ich sage mal stellvertretend Danke.

Viel Glück!

Turmfalke


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RE: Wie war das nochmal mit Platon?

#5 von Joringel , 10.10.2016 15:14

Lieber Turmfalke,

ich freue mich, dass Du Dich so gut in die Situation der Familie hineinversetzen kannst. Ich habe auch schon von anderen sehr positive Reaktionen erlebt, denn ich berichte bei guter Gelegenheit immer davon im Freundeskreis. Mein Hintergedanke ist zu zeigen, dass es ganz normal ist, auf geflüchtete Menschen zu zugehen und ihnen zu helfen, soweit man kann und mag. Auch wenn man im Fernsehen entsprechende Berichte sieht, sind die meisten Menschen auf Grund der persönlichen Kontakte verständnisvoll und positiv eingestellt. Aber die meisten ohne diese Kontakte bleiben doch reserviert, finden das ganz nett etc., beziehen es aber nicht auf sich selbst. Einige fragen auch: Und wer zahlt das alles? Und da möchte ich ganz laut und deutlich sagen: Ich bin stolz darauf, dass unser Land solchen Menschen in einer verzweifelten Situation hilft, ich bin stolz darauf, dass der kranke Sohn in einer Uniklinik aufwändig operiert wurde, damit er aufrecht sitzen und besser atmen kann. Ich bin stolz darauf, dass er einen Elektrorollstuhl bekommen hat usw. usw. und er jetzt auch ein wenig Lebensqualität bekommt. Neulich stieß ich zufällig auf sein Bild bei Facebook. Er hat sich so fotografieren lasse, dass man seine Behinderung kaum sieht und sieht echt "cool" aus. Da ist es mir richtig durch Mark und Bein gegangen, weil ich sehen konnte, wovon dieser junge Mann träumt. Und ich kenne ja seine Realität!
Und noch etwas, ich sagte ja schon, dass seine Mutter auch nicht gesund ist. Da ich mit zum Arzt gegangen war, fand ich heraus, dass sie die Tabletten völlig falsch angewendet hat. Man könnte fast sagen, es hätte auch lebensbedrohlich sein können. (Einen Einnahmeplan gab es nicht!!!) Ich habe damals einen Brief für den Fall eines Notarzt-Einsatzes geschrieben mit allen notwendigen Daten, der jetzigen Diagnose und den Tabletten, die sie bekommt und der Familie eingeschärft, diesen immer bereit zu halten. Ich erkundigte mich bei fachkundigen Freunden nach dem richtigen Vorgehen bei dieser Krankheit und konnte mit deren Hilfe die Fehler bei der Tabletteneinnahme korrigieren. Nun geht es ihr besser und ich hoffe, es kommt nicht zu einem dramatischen Zwischenfall. Aber was ist mit den anderen Menschen, die völlig isoliert in Unterkünften sitzen und warten. Sie sollen sich integrieren, aber in welche Welt denn, wenn wir uns ihnen gar nicht zeigen?
Die afghanische Familie hatte einen Aufklärungsbogen bezüglich der Anhörung bekommen, dass man ehrlich sein soll, dass man sagen soll, wenn man etwas nicht verstanden hat, dass man Anspruch auf einen Dolmetscher hat, dass man möglichst jedes noch so kleine Dokument (auch ärztliche Atteste mitbringen soll usw.) , aber was nützt es den Betroffenen, wenn es ihnen niemand übersetzt und erklärt?
Aber jetzt hat Joringel sich in Rage geschrieben und hört lieber auf.
Danke Turmfalke.


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