Liebe Freunde und Gesprächsteilnehmer unseres Forums,
unten stehend veröffentlichen wir die Andacht, die zu Beginn unserer Mitgliederversammlung 2014 in Eisenach gehalten wurde. Die Gedanken und Gebete setzen sich mit unserem biblischen Tagungsmotto auseinander. Diese Gedanken können Betroffenen helfen, sich selbst wieder in die Welt zurückzufinden, auch wenn alles zusammen zu brechen scheint. Sie können aber auch bei denjenigen, die Verantwortung in der Kirche tragen, das Ausmaß dieser Verantwortung sichtbar machen. Mobbinggeschehen ist wie ein Drama, das auf einer Bühne zelebriert wird. Der Dramaturg beobachtet das Ganze hinter dem Vorhang und wartet auf den Todesstoß. Kann man sich dabei wirklich wohlfühlen und sein Gewissen beruhigen? Welche Verantwortung tragen wir alle, wenn es um unsere Nächsten, unsere Untergebenen geht?
Psalm 142
9. November 2014, Jahrestagung DAVID, Eisenach
Lesung Lk 17,20-24
Ps 142
Stille
Ich möchte in Gedanken noch einmal durch den Psalm 142 gehen:
Verse 2 und 3 sind wie eine Überschrift:
Ich schreie und flehe zum Herrn mit meiner Stimme. Ich schütte meine Klage vor ihm aus und zeige an vor ihm meine Not.
Vers 4a:
Ich tue dies in der Gewissheit, dass wenn mein Geist in Ängsten ist, so nimmt sich Gott meiner an!
Verse 4b-5:
Beschreibung der Situation:
• sie legen mir Schlingen auf dem Wege, auf dem ich gehe
• da will niemand mich kennen
• ich kann nicht entfliehen
• niemand nimmt sich meiner an
Verse 6-8a:
Gefühlslage:
• Zu Dir schreie ich: Du bist meine Zuversicht und mein Teil
• Hör auf meine Klage
• errette mich von meinen Verfolgern, denn sie sind mir zu mächtig
• führe mich aus dem Kerker (Tagungstitel)
Vers 8ab
Ausblick:
So preise ich Deinen Namen.
Die Gerechten werden sich zu mir sammeln, wenn du mir wohltust.
VV6-8a:
Welch treffende Beschreibung der Gefühlslage!
Während und nach Mobbing.
Kerker:
Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, was es bedeutet in einem Kerker zu leben, leben zu müssen. Ich denke an politische Gefangene in Diktaturen, an Erzählungen, dass eine Maus das einzig Lebendige ringsum gewesen ist.
Im Kerker sein bedeutet:
eingesperrt sein, Gefängnis, ohne eigene Handlungsfreiräume, der Macht anderer Menschen unterworfen, auf wenige qm eingegrenzt.
Es ist eng, feucht, stickig.
Das Leben ‚draußen‘ findet ohne mich statt.
Dunkel, ohne/wenig Licht
Einsamkeit: andere Menschen kommen nicht mehr vor.
‚Kerker‘ beschreibt die Gefühlslage des Gefangenen, des Gemobbten.
‚Kerker‘ ist die Innenansicht. Tatsächlich wird im Mobbing der Gemobbte in die Wüste geschickt.
Es ist die Klaviatur der Depression: zusammengedrückt, unfähig zur Bewegung.
Es gibt nur den einen Blick: an die Wand, die den Weg zurück ins Leben versperrt.
Bei Krankenbesuchen in der Klinik erleben Pfarrer und Pfarrerinnen Menschen in dieser Lage vielfach ähnlich: wenn die Behandlung sich endlos hinzieht, wenn die Behandlungserfolge ausbleiben, wenn die Abläufe auf Station mehr Nerven kosten, als dass sie helfen. Das Krankenzimmer als Kerker. Da geht der Blick wochenlang immer auf dasselbe Bild an der gegenüberliegenden Wand. Da geht der Blick immer nur an die Decke, jeder dunkle Fleck dort ist längst bekannt.
Für die meisten Erkrankungen lassen sich keine Ursachen finden.
Wie anders ist es einem Patienten zuzuhören, der in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt worden ist. Wie ungeheuerlich bleibt es, dass der Unfallgegner bei Rot über die Ampel gerast ist.
Mobbing: da gibt es andere, die mich in diese Gefühlslage gebracht haben!
Verse 4b-5
Beschreibung der Situation:
• sie legen mir Schlingen auf dem Wege, auf dem ich gehe
• da will niemand mich kennen
• ich kann nicht entfliehen
• niemand nimmt sich meiner an
Die meisten von uns können diese Worte mit eigenen Erinnerungen und Erfahrungen mit Inhalt füllen.
Am Ende einer Mobbingerfahrung bleibt vieles von dem Gefühl ‚Kerker‘
• da waren und sind andere, die mich weghaben wollten.
• da waren und sind andere, die mich und die Meinen verletzt haben. Verletzungen, die an unserer inneren Persönlichkeit gefressen haben und weiter fressen.
• da war und ist die Erfahrung von mangelnder Solidarität, von ‚im Stich gelassen werden‘
• da waren und sind körperliche Folgen: Seele und Körper haben gelitten und leiden (vielleicht) immer noch
Wie komme ich aus dem Kerker heraus?
Das Ende eines Mobbings ist ja nicht gleichbedeutend mit der Befreiung aus dem Kerker.
Auch wenn alle Gerichtsprozesse durch sind, auch wenn ein neuer Lebens- und Arbeitsplatz gefunden ist: die innere Gefühlslage hat es schwer sich aus dem Dunkel des Kerkers herauszuarbeiten.
Der Psalmist schreibt es wie folgt:
Gott nimmt sich meiner an. Er nimmt sich der Ängste an, Gott tut mir wohl.
Was bedeutet das??
Hier bleibt es dabei: die Ängste anzusehen.
Wer sieht wirklich unsere Ängste an.
Manchmal können wir sie selber nicht ansehen, zu groß, zu mächtig sind sie.
Andere Menschen sind vielleicht mit ihren eigenen Ängsten beschäftigt, auch sie können nicht wirklich hinsehen, zu groß, zu mächtig ist diese Angst!
Gott sieht unsere Ängste an! Es ist eine Hoffnung.
Dahinter steht die innere Wahrheit: nur die Ängste die ich selber benenne, oder die andere für mich benennen, können ihre Macht verlieren.
Andrea Riedinger ist eine Frau, die mit Mitte 30 ihren Mann durch eine Hirntumorerkrankung verloren hat und mit einer zweijährigen Tochter zurückgeblieben ist.
(Andrea Riedinger, meine Trauer traut sich was! - nach einem Schicksalsschlag wieder mut zum leben fassen, adeo Verlag, Asslar 2014)
Sie schreibt im Klappentext ihres Buches:
„Ängste muss man aussprechen dürfen, denn allein schon die Auseinandersetzung mit ihnen nimmt den ersten Schrecken. Sorgen muss man teilen, um sie wieder in einem neuen Licht zu sehen. Seine Wut darf man äußern, denn unterdrücken schadet nur. Die Traurigkeit darf gelebt werden, denn jeder Mensch hat Trost verdient.“
Wir selber können unsere Ängste, Sorgen und Nöte immer nur in Teilen wahrnehmen und benennen. Andere Menschen können auch nur im Rahmen ihrer Person mit hinsehen und begleiten. Der Psalmist geht noch einen Schritt weiter und bringt seine Klage und Ängste vor Gott.
Vor Gott stehen wir mit unserer ganzen Person. Mit Sichtbarem und Unsichtbarem. Mit Bewussten und Unbewussten. Gott sieht die Sorgen und Ängste, und so verlieren sie ihre Macht.
Gott hat nicht die Schlüssel um die Kerkertür aufzusperren. Aber Gott nimmt unsere Seele an die Hand. Bis zu dem Tag, an dem wir wieder frei sind.
Und: die Perspektive geht weiter: gelingt das wohl-tun bei mir, dann ist das Werbung für andere: Gerechte werden sich sammeln.
Natürlich ist es auch die Werbung für die Sache Gottes: tut Gott hier Gutes, erweist sich Gott als erfahrbar und mächtig, dann kann das nur dazu führen, dass andere auch zu ihm kommen.
Gelingt die innere und die äußere Rettung hier oder da - dann öffnet sich die Welt ein wenig. Dann entstehen ‚Haarrisse‘. Dann sind wir einen Schritt weiter hin zu einer gerechten Welt.
Vielleicht ist es etwas von dem Reich Gott inwendig in uns.
Vielleicht ist es die Verheißung hin zu einer Welt, die kommen soll und die kommen wird.
Amen.