Sündenbock

#1 von Panama* , 19.07.2020 13:24

Liebe Forumsgemeinschaft,

das Forum scheint im Schlafmodus / Sommerloch zu sein.

Ich möchte heute eine Geschichte posten, auch wenn sie aus dem Rahmen der hier sonst dargestellten Mobbing-Fälle in der ev. Kirche fällt. Ich habe sie erst vor einigen Jahren bei der Lektüre eines Romans (s.u.) zufällig entdeckt.

Heute ist ja gerade der 19. Juli und vor genau 150 Jahren zogen Franzosen und Deutsche gegeneinander in den Krieg; dessen Ergebnisse machten Frankreich und Deutschland auf Jahrzehnten hinaus zu Feinden. In den letzten Tagen haben sich auch vor allem die Printmedien des Themas angenommen, auch unsere Lokalzeitung auf einer ganzen Seite. Daher mein Beitrag…

Mir geht es hier nicht um die große Geschichte, sondern um die Folge davon in einem kleinen Dorf in der Dordogne, die als „das Drama von Hautefaye“ bekannt ist (s. ausführliche Darstellung in deutscher Sprache mit Bildern in Wikipedia). Es ist eine grausame, aber wahre Geschichte, die sich am 16. August 1870 abspielte, also einen Monat nach der Kriegserklärung Frankreichs an Preußen.

Ein junger, intelligenter, frommer und keineswegs arroganter Adliger/Grundbesitzer Alain de Monéys, der für seine Redlichkeit, Güte, Gerechtigkeitssinn und Vaterlandsliebe bekannt und geschätzt war, verlässt an jenem Tag das Elternhaus (einen jüngeren, behinderten Bruder, der sehr an ihm hing, hatte er auch), um wie alljährlich um diese Zeit den Markt von Hautefaye im Nachbarort zu besuchen. Um 14. Uhr kommt er an. Zwei Stunden später eine gegen ihn aufgehetzte, hasserfüllte Menge lyncht ihn, quält ihn, verbrennt ihn beim lebendigen Leibe. Manche Zeugen berichteten sogar von Kannibalismus.

Wie konnte es zu dieser urplötzlichen, unfassbaren Tat kommen? Da spielten regionale Gegebenheiten eine Rolle: es war schrecklich heiß an jenem Tag, Tiere und Menschen litten unter einer anhaltenden Dürre, die Bauern hatten kaum etwas zum Verkauf anzubieten. Es drohte Hungersnot. Es herrschte Verzweiflung. Alkohol, alte Rivalitäten, Neid und heimliche Liebesgeschichten u.s.w. wurden auf einmal unter der hier versammelten Bauern zum Sprengstoff. Manche Masken fielen: das Übelste, wozu eine hysterisch gewordene Menge fähig sein kann, brach aus.

Aber die Kriegssituation im Hintergrund trug auch zur Eskalation vor Ort bei. Die Dorfbewohner waren im Wesentlichen alle Analphabeten und auf die Informationen einiger angewiesen, die sie schnell manipulieren konnten. Falsche Nachrichten über die Lage an der Front wurden verbreitet, um die Leute bei Laune zu halten.
Interessant in der Geschichte ist auch die Rolle des Priesters und des Bürgermeisters.

Und Alain de Monéys? Er wurde in dieser gespannten Situation schlicht und einfach Opfer eines doppelfachen Missverständnisses. Ihm wurden plötzlich Sätze, Gedanken und Taten bis zum Absurden in die Schuhe geschoben. Er wurde verleumdet.… Auf einmal wurde er zum „Spion im Dienst der Preußen“ ja sogar zum Preußen erklärt. Pseudo Zeugen meinten zu wissen, er habe: „Es lebe die Republik“, gesagt, was gerade um diese Zeit in der Provinz als Hochverrat gegen Napoléon III und das Vaterland galt…

Er wurde zur persona non grata. Der Mob brauchte einen Sündenbock. Er wurde es. Sein Tod hatte für seine Familie schwerwiegende Folgen.

Schon am Tag danach war das wieder nüchtern gewordene Dorf über das Geschehene selbst völlig schokiert. Die Täter suchten Ausreden… Es kam zu einem schnellen und kurzen Prozess mit insgesamt 21 Angeklagten. Exemplarisch wurde eine Guillotine im Dorf aufgestellt: die drahtziehenden Barbaren wurden selbst Opfer einer anderen Barbarei. Einer wurde für immer nach Neukaledonien verbannt, die anderen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Das Drama von Hautefaye hat das Dorf lange Zeit traumatisiert. Erst 100 Jahre nach der Tat wurde eine Messe im Beisein der Nachfahren des Opfers und der vier zum Tod Verurteilten abgehalten. Eine Gedenksäule zur Erinnerung an das Ereignis gibt es nicht, denn „in diesem Dorf ist immer noch ein Gefühl von Scham spürbar“ (so Wikipedia).

Die Geschichte wurde in zwei sehr ausführlichen und spannend erzählten Büchern historisch aufgearbeitet, aber auch in der Literatur. Ein kurzer Roman von Jean Teulé trägt als Titel (Übersetzung des Originals): „Fresst ihn, wenn ihr wollt“. Der Titel ist mir leider etwas zu provokativ.

Vielleicht habe ich euer Interesse geweckt.
Alles Gute!
Panama

Panama*  
Panama*
Beiträge: 45
Punkte: 155
Registriert am: 01.02.2020


RE: Sündenbock

#2 von Sunny , 21.07.2020 08:10

Hallo Panama

Schön, dass du das Forum mit deinen Beiträgen belebst. Die sind immer auf gute Weise anregungend zum Nachdenken

LG sunny

Sunny  
Sunny
Beiträge: 239
Punkte: 815
Registriert am: 01.12.2017


   

Heute Nacht
Hoffnung

Xobor Forum Software ©Xobor.de | Forum erstellen
Datenschutz