Geburtsfehler bei der EKD 1946?

#1 von Joringel , 17.02.2019 19:45

Büdingen/Hessen 22. Juni 1946

Lieber Hans Asmussen!
als ich mich gestern aufmachte um nach Speyer zu fahren, ahnte ich den Ausgang noch nicht, wenn ich auch seit etwa 8 Tagen hätte gewarnt sein sollen: Ich fuhr mit drei halbwegs guten Reifen, einem sehr schlechten Reservereifen und einem geliehenen Rad ab. Auf der Autobahn zwischen Darmstadt und Mannheim platzte einer meiner guten Reifen irreparabel weg und ich musste mich mit einem nur noch aus Leinwand bestehenden Reserverad im 30-40 Kilometer- "Tempo" nach Hause schlängeln.

Ich bin nun durch die Tücke des Objekts sowohl an der Teilnahme an der Preussischen Bruderratssitzung in Berlin wie auch an dieser Ratstagung, auf die ich grössten Wert gelegt hatte, verhindert worden und bin geneigt, darin mehr als nur einen Zufall zu sehen.

Mit dem Rest meiner Arbeit geht es mir nicht viel anders: Wahl hatte sein Kommen zugesagt und ist dann nicht unwesentlich erkrankt, sodass er auf Wochen im Krankenhaus liegt. Mein Sekretär und meine Sekretärin haben beide durch Maßnahmen der Besatzungsmacht hier in Büdingen ihre Unterkunft verloren, meine Vortragstätigkeit ist auf unabsehbare Zeit lahmgelegt, und die unfreiwillige erzwungene Besinnung lässt mich daran denken, dass es genau heute ein Jahr ist, dass ich in Frankfurt zum ersten Mal wieder als ein 'freier Mann' auf der Straße stand und mein Wiedersehen mit Wurm und Dir feierte.

Ich habe mir damals das vor uns liegende Jahr wesentlich anders gedacht. Die erste grosse Enttäuschung waren die Zustände im Osten mit der Selbsternennung von Dibelius zum Bischof aller Reussen und der völligen praktischen Gleichgültigkeit der Brüder drüben in Bezug auf meine Heimkehr und Wiedereinschaltung. Ich habe das niemand übelgenommen, weil ich ja mit eigenen Augen gesehen habe, wie die Brüder im Osten vielfach durch Leid und Hunger an die Grenze ihrer biologischen Existenz gekommen sind.

Wesentlich mehr hat es mich persönlich bewegt, dass ich in meiner bayerischen Notheimat jener ersten Monate vollkommen als nicht vorhanden betrachtet und behandelt wurde, sodass ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte (Du kennst die Formulierung), dass diese Leute, wenn sie sich über meine Befreiung überhaupt gefreut haben, sicher nur das eine Gebet im Blick auf mich gebetet haben: "Herrgott. bewahre uns davor, dass dieser fatale Mensch zu uns zurückkehrt!" Das Verhalten der amtlichen bayrischen Kirche ist sich zwölf Monate hindurch in dieser Grundhaltung treu geblieben, und so blieb mir nach einem Vierteljahr nichts anderes übrig, als den Wanderstab weiter zu setzen.

Da ich nach Berlin nicht zurück konnte (und nun wohl auch überhaupt nicht mehr zurück kann) meinte ich, dass mir vielleicht in der Bekennenden Kirche eine Aufgabe zufiele. Auch dieser Eindruck war eine Täuschung. Du weisst, dass ich mich in Trysa gegen meine bessere Überzeugung zum Eintritt in den Rat durch die Brüder habe breitschlagen lassen, nachdem ich bereits als Vorsitzender des Reichsbruderrates in Frankfurt ausgebootet war. Die Erfahrungen seit Treysa haben mir gezeigt, dass "der stellvertretende Vorsitzende im Rat" im Grunde nichts anderes bedeuten sollte als mich auch von Seiten der EKID auf ein totes Gleis zu schieben. Weder Wurm noch die Kanzlei haben je den geringsten Versuch gemacht, mich an der Arbeit der EKID wirklich zu beteiligen, obgleich ich zweimal von mir aus nach Schwäb.Gmünd gefahren bin, um die Verbindung zu suchen. Wenn Wurm auf Urlaub ging, habe ich von dem, was in seiner Vertretung geschah, nur nachträglich und mehr oder weniger zufällig Kenntnis erhalten. Wichtigste Briefe, wie der an die amerikanische Besatzungsmacht wegen des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus und Grundsätze über die " Regelung der kirchlichen Verhältnisse in Kirchengebieten, die von Deutschland abgetrennt werden", sind ohne mich entschieden worden, und auch meine Beauftragung mit den Aufgaben des Kirchlichen Aussenamtes und der ökumenischen Vertretung der EKD ist bei jeder Gelegenheit und in erheblichen Umfange sabotiert worden, so dass ich mich fragen muss, ob nicht auch dieser Auftrag lediglich als eine Formsache angesehen wird. Angesichts dieser ganzen Entwicklung und der sachlichen wie technischen Unmöglichkeit, ihr irgendwie zu begegnen, sehe ich mich vor die Notwendigkeit irgendeiner Entscheidung gestellt.

Die EKID ist zu einer undefinierbaren Grösse geworden, deren Legalität im Blick auf ihr Zustandekommen völlig in der Luft schwebt und deren Tätigkeit einen rein personellen und bürokratischen Charakter anzunehmen droht, wobei Anliegen in den Vordergrund treten, die mit der Barmer Erklärung (trotz der Feststellung in Treysa) keinerlei innere Verbindung haben.
In den Landeskirchen herrscht überall eine kaum noch zu verbergende Politik der Restauration und Reaktion, nicht das Wort Gottes und seine kräftige 'Hervorhebung` in der Verkündigung und Ordnung der Kirche stehen im eigentlichen Mittelpunkt, sondern Bestrebungen, die "Heimatkirche', die rechtlich verfasste Kirche von vorgestern, die konfessionalistische Eigenbrödelei und hierarchisch-liturgische Romantik zu entscheidenden Gesichtspunkten zu machen.
Die entscheidenden Gesichtspunkte, die sachlich im Vordergrund stehen müssten, wie die Behandlung der Schuldfrage und damit die Predigt von Buße und Glaube werden nicht ernst genommen. Der Wille. ein Neues zu pflügen und die Erkenntnisse der vergangenen zwölf Jahre mit ihren Konsequenzen ernst zu nehmen, ist sichtlich nicht vorhanden: der Auftrag der Kirche, mit der ihr anvertrauten Botschaft unserm Volk und damit der Welt in Treue das auszurichten - was der Herr unserer Kirche als besonderes Pfund anvertraut hat wird als Nebensache beiseitegeschoben, und überall werden selbstgewählte Ziele und Wünsche, für die man die Zeit als gekommen erachtet, in den Vordergrund geschoben. - Bei all dem wird die Gemeinde geflissentlicht entmündigt zu Gunsten eines unevangelischen Verständnisses des Amtes bzw. der Ämter, und es gibt bis zur Stunde nicht eine Landeskirche, die grundsätzlich hiervon eine Ausnahme machte.
Das Ergebnis meiner Überlegungen kann infolgedessen kein anderes sein, als dass ich ein Jahr lang mich an einer Aufgabe gemüht habe für die die Zeit noch nicht gekommen ist. Es scheint mir, als müsste nun auch dieser falsche Weg erst zu Ende gegangen werden und zu einem vollen Bankrott kommen- ehe wir zu der Einfalt zurückfinden, zu der wir in Bannen gerufen wurden.

Was das für mich persönlich für Konsequenzen nach sich zieht vermag ich im Augenblick nicht zu sagen. Für einige Monate habe ich noch in der Nassau-Hessischen Bekenntniskirche einen Auftrag zu erfüllen. Auch die angeknüpften Beziehungen innerhalb der Oekumene möchte ich im Interesse der Bekennenden Kirche wie unseres ganzen Volkes nicht von heute auf morgen fallen lassen. Andererseits scheint mir mein Amt in der offiziellen EKID unhaltbar geworden zu sein, weil es einfach des tatsächlichen Inhaltes entbehrt. Ich werde auf der nächsten Reichsbruderratssitzung wahrscheinlich nicht mehr anwesend sein und bitte Dich, diesen Brief den Brüdern dort zur Stellungnahme vorzulegen. Ich lasse ihn den Mitgliedern des Reichsbruderrates und den übrigen beauftragten Vertretern der Bekennenden Kirche sowie des Pfarrernotbundes zugehen.

Mit herzlichen Grüssen
Dein Gez. Martin Niemöller

Ich fand in diesem Brief Gedanken, die auch unser verstorbenes Vorstandsmitglied, der Jurist Gotthold Gocht, manchmal angesichts des laxen Umganges der kirchlichen Institutionen mit dem Kirchenrecht geäußert hat. Allerdings braucht man zum Verständnis auch einige Kenntnisse über die Geschichte der Evangelischen Kirche nach 1918, als nämlich Kaiser Wilhelm als oberster "Bischof" durch seine Entmachtung ausfiel und es sehr konservative Theologen gab, die sich als Deutsche Christen (DC) konstituierten und Machtübernahme Hitlers aktiv unterstützten. Die Pfarrer und Mitglieder der Bekennenden Kirche (BK), die sich auf die Barmer Theologische Erklärung beriefen, standen staatlicherseits sehr unter Druck. Ihre jungen Vikare wurden absichtlich an die Front geschickt und Dietrich Bonhoeffer galt als Verräter. Er stand nicht einmal auf der Fürbitten-Liste der Bekennenden Kirche, wenn diese für ihre verhafteten Mitglieder beteten.Zwischen diesen beiden Richtungen standen die theologischen BDM 's, wie sie von den Leuten der Bekennenden Kirche spöttisch genannt wurden. Damit war nicht der Bund deutscher Mädchen gemeint, sondern ein Bund der Mitte, der sich ängstlich an die Staatsdoktrin anpasste.

Euer Joringel

mit schwerer Kost (Die Hervorhebungen sind von mir).


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